In Grönland brechen im Sommer ganze Berge aus dem Eis. Eine Reise zur Kinderstube der Wale mit einem Einblick in ein faszinierendes Naturschauspiel

Grau und einsam liegt der Sund unter einer fahlen Sonne, die hier im kurzen arktischen Sommer niemals untergeht. Bleigrau die Wolken, grau wie eine verwaschene Gardine die Eisberge. Möwen sitzen darauf, und sie sind so still wie diese Szene irgendwo im Nirgendwo nördlich von Ilulissat in Grönland. Einzig das Röhren vom Bootsmotor und das Rauschen der Wellen geben Bewegung und Dynamik in diesem trüben Morgen auf der Diskobucht, die still und starr in einem eisigen Grau liegt. Nicht frostklirrend, eher nieselig. Über Nacht haben sich Nebelbänke herangeschlichen und auf die Küste gelegt. Was heißt Nacht, wir haben’s ja kommen sehen unter der Mitternachtssonne.

Käpt’n Ole Schmidt, das Steuerlocker in der Hand und den Blick fest auf der Bucht, nimmt Kurs auf den Ataa-Sund. Hier ist nicht nur die Kinderstube der Wale (mit Glück kann man welche sehen), sondern hier sind auch die Gründe der Fischer von Ilulissat und dem winzigen Nest Rodebay. Zwei Fischer in knallroter Wathose auf ihrem kleinen Boot vor gewaltiger Eisberg-Kulisse sind der Farbtupfer im großen Grau. Nun rücken die Felsen näher heran, der Sund liegt zwischen dem Festland und der Arve-Prinsens-Insel und führt nach Norden durch das Labyrinth von Sunden und Fjorden an der Westküste Grönlands. Nun, an den schwarzen Flanken dieser unermesslichen Insel Grönland, wird die Welt klarer – ein deutliches Schwarz-Weiß hat das eintönige Grau abgelöst. Gleißend die Eisberge im Sund, dunkel und düster das Land, in dem hier oben kein Mensch mehr wohnt. Eine gottverlassene Einsamkeit, wohl wahr.

Der Ataa-Sund trennt die Arve-Prinsens-Insel vom grönländischen Festland und führt mit einem Abzweig als Fjord oberhalb der verlassenen Siedlung Ataa ins Innere der Insel. Dort stößt ein Gletscher vom Inlandeis ins Meer, dorthin wollen wir. Das Wasser liegt in eigentümlicher Stille. Die Bergrücken sind nichts weiter als blanker, vom Eis vergangener Jahrtausende polierter Fels. Ein paar Gräser krallen sich darauf fest, ein Wasserfall tost – jetzt im Sommer – von steiler Klippe in den Sund. Ein riesiger Eisberg mit mehreren Hundert Metern Länge steht wie eine Wand im Fjord, türkisfarbig schimmert das uralte Eis durch das verwitterte Weiß dieses gigantischen Klotzes. Steht hier wie für die Ewigkeit; vielleicht ist er erst gestern abgebrochen, vielleicht schon vor Jahren, vielleicht schon morgen fort.

Ein rot-weißes Schiff manövriert langsam durch die Eisberge, die nun immer häufiger auftauchen. An manchen Stellen der Insel fließt das Inlandeis des Grönländischen Schildes bis zum Meer und bricht in die Fjorde ab; der Gletscher „kalbt“. In die Diskobucht, dieses fantastische „Eismeer“, münden mehrere Fjorde, an deren Ende Gletscherabbruchkanten stehen. So heftig wie nirgendwo sonst auf der nördlichen Erdhalbkugel kalbt ein Eisstrom im Eisfjord südlich von Ilulissat, deswegen ist die Diskobucht mit ihren verbundenen Sunden und Fjorden, ungefähr so groß wie Schleswig-Holstein, voller Eisberge. Dort, wo der Eqip-Sermiat-Gletscher kalbt, kann man mit dem Schiff hin. Käpt´n Schmidt macht das, und er hat jetzt, rund 80 Kilometer nördlich von Ilulissat, Gas rausgenommen. Wir sind da. Das Boot dümpelt am Ende des Fjords dahin. Die Abbruchkante zieht sich im Halbkreis kilometerweit in das Rund, eine Arena für ein beeindruckendes Naturschauspiel: Dort, wo das Eis bis tief in den Gletscher zerbrochen ist, schimmert das magische Türkis durch.

Das Wasser ist hier dicht bedeckt von Eis; klein zerstoßen bis groß wie ein Haus sind die hier treibenden Trümmer vom Gletscher. Das Wasser schwappt träge, dicht und suppig, und es ist eine trügerische Ruhe, so scheint es. Man meint, Bewegung zu spüren; fühlt unermessliche Kräfte am Werk; unsichtbar, unaufhaltsam. Aus dem Meer ist ein feines, dauerhaftes Rascheln zu hören, wenn sich das fein zerbrochene Eis in der kaum merklichen Dünung reibt, und manchmal ein zaghaftes Knirschen, wenn zwei größere Trümmer aneinanderstoßen.

Plötzlich donnert es wie bei einem Gewitter, dann scheint das Eis zu stöhnen, es folgt ein Knall scharf wie ein Pistolenschuss. In der Wand ächzt und rumort es mit einem dunklen, tiefen und lang gezogenem Klagelaut – im Zeitlupentempo sackt ein – nur kleiner – Teil der Front zusammen. Eine Fahne aus Eisstaub und Gischt steht über dem Zusammenbruch. Alles erscheint zeitversetzt und verlangsamt. Kein Grund für Käpt’n Schmidt, uns sofort herauszukatapultieren, er hält ohnehin sicheren Abstand, eine niedrige Welle schwappt müde heran und vorbei, die Eisbrocken knirschen und kratzen kurz und aufgeregt am Rumpf. Dann ist es wieder still, als wäre nichts.

Die Hand aber, die hat Ole Schmidt immer am Gas und die Abbruchkante immer im Blick. Eine andere Reisegruppe bekam hier im Sommer 2012 einen gehörigen Schrecken, als der Gletscher auf großer Front zusammenbrach und eine Sturzwelle den Fjord hinabschickte. Immerhin liegen die Ausflugsboote in sicherer Entfernung und sind ausreichend motorisiert; die Bootsführer haben die Wand im Blick um im Fall der Fälle den Alarmstart hinzulegen. Aber letztlich ist es rohe, unberechenbare Natur. Wir starren auf die Wand und haben eine Gänsehaut, und das nicht nur wegen der Temperatur.

Mehrere Meter pro Tag rückt der Gletscher vorwärts, dies auf einer Breite von knapp fünf Kilometern. Verglichen mit der Eismaschine südlich von Ilulissat ist dies hier kleiner. Aber trotzdem gewaltig, faszinierend. Etwas weiter nördlich münden drei Eisströme in den Fjord, damit ins Reich der Diskobucht. Riesige Eisberge brechen ins Meer und machen sich auf den Weg in den Nordatlantik, nach irgendwo oder gleich zum Friedhof der Eisberge nebenan – knirschend, krachend oder auch ganz leise. Es liegt am Wind und an der Strömung, wohin es sie zieht – aufs offene Meer oder in eine Bucht, aus der es kein Entrinnen gibt. Wir stehen still und staunen. Irgendwann gibt Käpt’n Schmidt sachte Gas, und wir fahren zwischen den treibenden Eisbergen hinaus. Bricht die Sonne nun endlich durch, setzen Lichtfinger die gleißenden Giganten in Szene. Wir starren fasziniert und beinahe fassungslos auf diese Urgewalt am Ende der Welt.

Wir erreichen die alte Siedlung Ataa auf der Arven-Prinsens-Insel, ein in den 1960er-Jahren aufgegebener Ort, mehr als eine Handvoll Häuser waren es nie. Nur im Sommer hält jemand die Stellung, serviert im alten Haupthaus dieses ehemaligen Versorgungspostens ein gutes Mittagessen; heute Forelle und Eismeergarnelen, schenkt ein Glas Rotwein ein. Trotz aller Einfachheit ist es gemütlich bei Tisch; liebevoll gedeckt und gereicht, das Essen hervorragend und köstlich. Draußen liegen Eisberge am Strand wie hingeworfen, mal türkisfarben schimmernd wie ein Edelstein, mal schwarz und schmutzig wie Schrott. Bizarr geformt, zerbrochen, gestrandet. Endlich und vergänglich ist alles. Das Lagerhaus ist zusammengestürzt, die Holzkreuze auf dem Friedhof verwittert. Ein trüber Himmel hängt über Ataa und auf dem Boden liegt Geröll in allen erdenklichen Erdfarben. Drinnen gibt es Nachtisch.

Auf dem Sund zurück nach Ilulissat, dem früheren Jakobshavn, steuert Käpt’n Schmidt in respektablem Abstand vorbei an Eisbergen unfassbaren Ausmaßes – allein die Höhe des Giganten, der hier im Norden der Diskobucht wacht, beträgt 100 Meter und mehr. Das sind keine einfachen Eisberge mehr, das sind Eisgebirge. Manche Eisberge laufen irgendwann auf Grund und sitzen vorerst fest – man bedenke, dass rund sechs Siebtel ihrer Größe unter dem Wasser liegen. Und deswegen macht Käpt’n Schmidt einen Bogen. Wind und Wetter arbeiten unaufhörlich am Eis; so gewaltig sie sind, vergänglich sind sie doch. Das Ding hier hat Höhlen und Lagunen, turmhohe Kavernen.

Vom Dach des Eisgebirges schießen Wasserfälle hinab. Mal sind die Eingänge in diese schwimmende Wunderwelt hell und verlockend, mal dunkel und voller Düsternis. Das ganze Ding wirkt zerlöchert, fragil, zerbrechlich trotz dieser schieren Größe. Und tatsächlich können Eisberge jederzeit auseinanderbrechen oder sich umdrehen, alles mitreißend, was in ihrer Nähe ist. So spannend sie sind und so verlockend ein Besuch auf ihnen erscheint – undenkbar! Wir erreichen die Hafeneinfahrt von Ilulissat, im Laufe des Tages hat sich der Eisgang verstärkt.

Das sieht, vor allem unter dem nun blauen Himmel, wunderschön aus – Eisberge vor Fels mit kunterbunten Häuschen. Nur: Die Einfahrt in den Naturhafen ist eng und das Eis dicht. Kann vorkommen, hieß es schon tags zuvor, und kam es auch schon. Dann finden sich ein paar Männer mit starken Booten zusammen und spielen ein bizarres Ballett, um das Eis da wegzukriegen: Die Choreografie ist lange einstudiert, Boote und Eisberge schwanken sanft auf der Bühne vor Ilulissat, so als ob sie miteinander Ball spielen täten. Sie stupsen das Eis fort oder schleppen es weg.

Der südlich des Ortes gelegene Ilulissat-Eisfjord reicht mehr als 50 Kilometer ins Inland – zurzeit zieht sich die Gletscherzunge immer weiter zurück, und der Eisstrom wird schneller. Am Ende liegt der Sermeq-Kujalleq-Gletscher, auch Jakobshavn Isbræ genannt, einer der produktivsten der Welt – bis zu 40 Meter rückt er täglich, das ist extrem schnell, vor und schickt jährlich 35 Kubikkilometer Eis ins Meer. Der Fjord, sechs bis sieben Kilometer breit, ist völlig von Eis bedeckt, mehr als ein Jahr brauchen die Eisberge, bis sie die Diskobucht erreichen. Und dann liegen sie erst mal am Ausgang des Fjords: In mehr als 200 Metern Tiefe befindet sich dort eine Bank aus Kies und Sand – und an der bleiben die großen Eisberge hängen, deshalb gibt es hier so viele. Sie warten, tauen ab, werden von Wind, Wellen und Wasserstand irgendwann auf ihre Reise geschickt.

Das wollen wir uns ansehen: Am späten Abend steigen wir um auf die „Esle“. Unter der arktischen Sonne liegt die Diskobucht wie ein blank polierter Spiegel mit Eisbergen. Es ist ein wunderschönes Licht, und das Schiff manövriert durch einen Zaubergarten aus Eis und Licht. Die Mitternachtssonne lässt die Eisberge in einem goldenen Licht aufleuchten und wirft den Schatten unseres Boots auf eine erstarrte Welt, die ganz langsam davontreibt. Kobaltblaue Kolosse spiegeln sich in tintenschwarzem Wasser. Mit einer gefühlten Schwerelosigkeit gleitet wir durch dieses bizarre, gleichsam traumhaft und unwirkliche, Anderland. Es ist Mitternacht, und die Sonne hängt über dem Horizont. Der Steuermann fährt vorbei an Eisriesen, der Bootsmann fängt Eis mit dem Kescher. Für die Drinks, zum Anstoßen. Im Weißwein knistert es ganz leise, und draußen auf dem Polarmeer stöhnen die Eisberge.