Dank der Berggorillas boomt der Tourismus in einem der stabilsten Länder Ostafrikas. Unser Autor kam ihnen beim Trekking gefährlich nahe

Woher soll Urungwoku wissen, wie viel sieben Meter sind? Der Nachwuchs-Gorilla aus dem Virunga Volcanoes National Park baut sich maximal drei Meter entfernt vor mir auf und trommelt mit den Fäusten auf seine Brust, dreht sich leicht zur Seite und kippt in Zeitlupe um wie ein zotteliger Fellsack.

Das ist jetzt ein Dilemma, denn unser Guide Frances hatte uns vorher ein paar Verhaltensregeln eingebläut: „Wenn wir bei der Gorilla-Familie angekommen sind, haltet immer sieben Meter Abstand und schaut ihnen nicht in die Augen!“ Nur: Wie schaut man an einem pubertierenden Gorilla vorbei, der sich gerade zwei Armlängen entfernt vor einem aufbaut wie ein rauflustiger Halbstarker? Bedrohlich wirkt Urungwoku dabei nicht gerade, eher schon wie ein Plüschtier zum Knuddeln. Gorillas anfassen aber, das hat Frances deutlich gemacht, sei ein absolutes No-Go, streng verboten, da: „Dangerous!“

Nicht etwa, weil Gorillas grundlos Menschen angreifen würden, obwohl sie bis zu 1,75 groß und 250 Kilo schwer werden, theoretisch also durchaus in der Lage wären, uns gefährlich zu werden. Der Grund aber ist ein anderer: 98 Prozent der Gene von Mensch und Gorilla stimmen überein – und das Immunsystem der Gorillas bietet keinen Schutz vor Menschenkeimen. Erreger, die für uns völlig harmlos sind, können ganze Gorilla-Familien töten. Der erfahrene Parkranger Frances hat inzwischen bemerkt, dass Urungwoku sich ein wenig zu sehr für mich interessiert. Frances kommt langsam näher, er grunzt und bellt leise dabei, als ob er mit einem trockenen Husten kämpfen würde, dann zieht er mich am Ärmel einige Meter von dem jungen Gorilla weg. Das heisere Grunzen soll den Tieren in ihrer „Sprache“ sagen: Alles in Ordnung, kein Grund zur Aufregung. Und tatsächlich trollt sich Urungwoku gleich wieder zu seiner Familie, die sich im dichten Gestrüpp eines kleinen Bambuswäldchen in Grüppchen verteilt hat und relaxt. Die 14-köpfige Gruppe wird die „Hirwa“-Familie genannt, was so viel heißt wie „Glück gehabt“. Das bezieht sich auf Silberrücken Munyimya, ihren Anführer. Im Gegensatz zu den anderen ausgewachsenen männlichen Gorillas hat Munyimya nicht Wochen und Monate dazu benötigt, sich eine eigene Familie zusammenzusuchen, sondern konnte bereits nach 24 Stunden Vollzug melden. „Glück gehabt“ eben. Jetzt streift er mit seinen fünf „Frauen“, drei Jugendlichen und fünf Baby-Gorillas täglich bis zu einen Kilometer durch den Nationalpark, immer beobachtet von einem Ranger-Team des Nationalparks.

In diesem schwer zugänglichen Regenwald im Grenzgebiet zwischen Ruanda, Uganda und dem Kongo gehört die „Hirwa“-Familie mit rund 260 anderen Berggorillas zu den letzten Exemplaren ihrer Art. Weltweit gibt es vielleicht noch 700 bis 800 von ihnen, jahrzehntelang ist die Anzahl der Menschenaffen durch Wilderei, Bürgerkriege und Brandrodung ihres Lebensraumes systematisch dezimiert worden. In Ruanda sorgt die Regierung mit scharfen Kontrollen und harten Strafen seit einigen Jahren dafür, dass ihnen keine Wilderer mehr zu nahe kommen. Geschuldet ist das nicht nur der plötzlich entdeckten Tierliebe des ostafrikanischen Staates. Für den boomenden Tourismus – man spricht von Einnahmen in Höhe von mehr als 200 Millionen Dollar jährlich, Tendenz steigend – sind die Berggorillas die wohl wichtigsten Botschafter Ruandas in der Welt.

Manzi Kayihura sieht ein wenig aus wie Michael „Air“ Jordan, der amerikanische Basketballstar. Polierte Glatze, breites Lachen, ein Getränk aus dem Coffeeshop in der Hand. Er hat ein paar Jahre in der Nähe von Frankfurt gelebt, aber für ihn war es keine Frage, in seine Heimat nach Kigali zurückzukehren. Er ist Leiter einer Reiseagentur, die in erster Linie Amerikaner und Europäer in Ruanda betreut – auf Wunsch rund um die Uhr.

Ruanda ist ein sicheres Land mit wenig Kriminalität und guter Infrastruktur

Sein Job besteht meistens darin, seine Gäste in die drei großen Nationalparks zu den Gorillas, den Schimpansen oder an den Kiwusee im Westen von Ruanda zu bringen, aber fast noch wichtiger ist ihm, den Menschen eine Botschaft mit auf den Weg zu geben: „Ruanda ist ein schönes, ein sicheres Land! Es ist ein tolles Abenteuer, hierherzureisen, und es hilft uns!“ Er verweist auf die niedrige Kriminalitätsrate und die immer besser funktionierende Infrastruktur des Landes: „Viele Ausländer glauben doch, dass in Ruanda immer noch Bürgerkrieg herrscht!“

Wir fahren mit dem Jeep durch den zum Teil chaotischen Verkehr auf den Straßen von Kigali. Manzi zeigt auf einen Markt am Rande einer Allee: „Sieht das etwa gefährlich aus?“ Gefährlich nicht. Trubelig schon eher. Kigali wirkt wie eine einzige lärmende Baustelle. Selbst am Sonnabend. Überall entstehen Bürohäuser, ein gläserner Wolkenkratzer ist zur Hälfte fertig gebaut. Vor dem Bourbon Coffee gleich neben dem wuchtigen Union Trade Center sitzen modisch gekleidete Einheimische in der Sonne und erholen sich von der Arbeit beim „Umuganda“, dem Gemeinschaftstag Ruandas. Einen Sonnabend im Monat arbeiten alle Bürger „freiwillig“ für die Allgemeinheit. Die Geschäfte sind zwischen 7 Uhr und 12 Uhr mittags geschlossen, jeder Ruander leistet seiner Eignung entsprechend seinen Beitrag für das Land. Es wird überall geputzt und gewerkelt. Gärtner säubern Grünflächen. Ärzte klären in Gemeindehäusern darüber auf, wie man sich vor Krankheiten schützt. Ruanda gehört zu den Staaten mit der höchsten Rate an HIV-Infektionen auf der Welt. Selbst Politiker kommen am Umuganda nicht vorbei. Angeblich entspricht der Ertrag eines Umuganda der vergütungsfreien Jahresleistung von 10.000 Arbeitern. Sind wirklich alle dabei? Was passiert mit Drückebergern?

Manzi lacht. „Die werden verhaftet!“ Er meint das ernst. Ruanda ist in etwa so liberal wie die Teilnahme am Umuganda freiwillig. Präsident Paul Kagame herrscht mit seiner Partei Ruandische Patriotische Front in einer Grauzone zwischen Demokratie und Diktatur. Trotzdem ist der Mann, der seit April 2000 als Präsident die Geschicke des Landes bestimmt, in der Bevölkerung beliebt. Nicht unbedingt bei den rund 8000 Kleinbauern in den provinziellen Landstrichen Ruandas, die nahe am Existenzminimum leben. Sehr wohl aber in den Städten, wo seine global orientierte Wirtschaftspolitik erste Früchte zeigt. Auch Manzi Kayihura hält Kagames harte Hand für unumgänglich: „Wir lagen 1994 am Boden, wir waren ein entzweites Land. Paul Kagame ist ein starker Führer. Er hat es geschafft, Ruanda wieder zu vereinen!“

Unter anderem wandte Paul Kagame dazu einen simplen Kunstgriff an: Er verbot einfach, dass in Ruanda weiterhin zwischen Hutus und Tutsis unterschieden wird. Das Land besteht offiziell nur noch aus Ruandern. Wer es wagt, Hutus und Tutsis als solche zu benennen, wird festgenommen und landet in einem der 15 jetzt schon hoffnungslos überfüllten Gefängnisse von Ruanda. „Flamingos“ werden die Häftlinge in Ruanda genannt, die auf den Straßen von Kigali häufig in großen Gruppen bei Straßen- oder Gartenarbeiten zu beobachten sind. Das liegt an der Anstaltskluft: die politischen Häftlinge werden in rosa, die „normalen“ Verbrecher in orange Kleider gesteckt.

Männer in Nyabigoma wurden früher fürs Wildern bezahlt. Das ist vorbei

Leonidas hat nicht mehr viele Zähne, und man sieht ihm an, dass er in seinem Leben noch nie einen Anzug getragen hat. Singen, Trommeln und Tanzen aber, darin macht dem kleinwüchsigen Jäger aus dem Traditional Village Iby Iwacu niemand etwas vor. Übersetzt heißt Iby Iwacu so viel wie „Die Schätze unseres Erbes“. Wir sind zurück am Fuße des Virunga Volcanoes National Parks in Nyabigoma. Hier führt Leonidas mit einer kleinen Gruppe von Männern und Frauen jeden Tag Tanzaufführungen vor, hauptsächlich vor Touristen, die vorher auf Gorilla-Expedition gewesen sind. Leonidas springt wie ein Derwisch auf und ab, seine Augen rollen, der Gesang klingt so manisch-intensiv, als ob ein paar gregorianische Mönche und Rammstein für eine Single kooperiert hätten. Leonidas hat Spaß, das sieht man dem beinahe 70-Jährigen an. Von der tragikomischen Atmosphäre, die an solchen nur für Touristen erschaffenen Orten oftmals herrscht, ist hier wenig zu spüren.

Ob es daran liegt, dass Leonidas und seine Leute gern hier sind, weil sie endlich über regelmäßige Einkünfte verfügen? Oder daran, dass er nun nicht mehr gezwungen ist, Dinge zu tun, die ihm lange Jahre zuwider waren?

Leonidas nämlich und viele der Männer, die mit ihm in Nyabigoma leben, waren früher Wilderer. Sie zogen durch die Wälder und töteten Gorillas. Es war für viele die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen. Leonidas zuckt mit den Schultern. Das war sein Job. Er wusste es nicht besser. Wie auch. Lesen und schreiben hat er nie gelernt. Überleben, das konnte er. Er greift nach einem schlaffen Bogen, der zum Amüsement für Touristen bereitliegt. Leonidas kneift ein Auge zu, spannt kurz an – Treffer. Mitten hinein in die provisorische Zielscheibe. Das Wildern im Wald fehlt ihm nicht. Leonidas liebt sein zweites Leben. Für Ruanda, aber auch für Urungwoku und seine „Hirwa“-Familie ist das eine richtig gute Nachricht.