Zwei große Komponisten wirkten im Burgenland, auf einer Friedenskundgebung wurden Zeichen zur deutsch-deutschen Geschichte gesetzt, und über der Landschaft liegt ein stiller Zauber

Nirgendwo sonst ist Österreich so flach wie im Burgenland, dem östlichsten seiner Bundesländer, das sich lang und schmal von der Slowakischen Republik im Norden bis nach Slowenien im Süden erstreckt und im Osten an Ungarn grenzt. Bewohner gebirgigerer Regionen Österreichs hat man schon lästern hören, das Burgenland sei auch sonst eine ausgesprochen flache Angelegenheit. Die Burgenländer verfügen zwar mit dem Neusiedler See über die größte Badewanne Wiens, bleiben in den Augen des Restösterreichers aber das, was die Belgier für die Franzosen sind oder die Ostfriesen für die Deutschen: die Lachnummer der Nation. Dem Piefke aus dem deutschen Norden auf Wochenendbesuch erscheint diese Charakterisierung vollkommen unverständlich. Auf ihn übt das Burgenland mitsamt seinen freundlichen, unprätentiösen Bewohnern einen stillen Zauber aus, wie ein vergessenes Paradies.

Gut, wer Berge will, muss anderswo hin. Die Steigungen hier bringen den Spaziergänger kaum aus der Puste. Es wäre deshalb topografisch naheliegend, zur Gesundung von Körper, Geist und Seele im Burgenland etwa eine Woche Fastenwandern einzulegen. Doch für kulinarische Selbstkasteiung ist diese Weltgegend nur Leuten zu empfehlen, die sich aus leiblichen Genüssen eh nicht viel machen. Denn sie kochen einfach zu gut im Burgenland. Weil ihr Land von der Sonne mehr verwöhnt wird als jede andere Region im deutschsprachigen Raum, so behaupten es jedenfalls ihre Prospekte, wachsen Obst, Gemüse und Reben fast von allein. Und bis es zum Schlachter geht, weiden die Tiere unbehelligt auf saftigen Wiesen.

Im Gasthof zur Traube in Neckenmarkt, kaum eine Autostunde vom Wiener Flughafen entfernt, kommen Teile jener Moorochsen auf den Tisch, deren noch lebende Verwandte in Sichtweite grasen. Die Küche der herzlich-robusten Traube-Wirtin Helga kredenzt zudem burgenländische Hausmannskost und pannonische Schmankerln – Beuscherl, Knödel, schaumige Suppen, allerlei von frischem Gemüse. Und ihre Süßspeisen sind zum Niederknien.

Pannonisch ist ein Wort, das einem im Burgenland häufig begegnet. Es kommt von Pannonia, so nannten die Römer jene Provinz ihres eroberten Reichs, in der heute auch das Burgenland liegt. 40 Gastronomen haben sich dort zu einer kulinarischen Regional-Offensive mit eigener Website verbündet (pannonische-schmankerlwirte.at). Das leider auch pannonische Glykol-Desaster, das vor knapp 30 Jahren den österreichischen Wein übel in Verruf brachte und viele Winzerexistenzen ruinierte, scheint den Burgenländer Weinbau zu einer kathartischen Selbstreinigung veranlasst zu haben. Seitdem konzentrieren sich die Winzer im Mittelburgenland und im Süden überwiegend auf lupenreine Rotweine aus der Traubensorte Blaufränkisch, am Neusiedler See produzieren sie außerdem herrliche, von der Sonne verwöhnte Weiß- und Dessertweine, für die hauptsächlich Grüner Veltliner, Welschriesling und Chardonnay zum Einsatz kommen. Auch die Traubensorte Zweigelt spielt im Burgenland eine große Rolle.

Die Weine dort sind nicht gerade billig, aber ihre (mittlerweile) rigorose Qualität hat ihren Preis, den der Gaumen goutiert – und der klare Kopf am nächsten Morgen auch. Wenn der Weinliebhaber, wie Hans Moser singt, wieder eine Reblaus werden möchte nach getanem Erdenleben und sich aussuchen dürfte, wo, dann am liebsten an einem Stock des Biowinzers Hans Feiler oberhalb von Rust. In Feilers Kopf und in seinem Vierkanthof in Rust am See, jenem Weindorf, auf dessen Hausdächern Störche in inflationärer Häufigkeit residieren, entstand einst die Geschichte zur TV-Serie „Der Winzerkönig“. Feiler übernahm den Familienbetrieb von seinem Vater, mittlerweile ist auch sein Sohn Kurt mit im Geschäft. „Unsere Altweine haben die Russen entsorgt“, sagt er und spielt damit auf die zehn Jahre Besatzungszeit des Burgenlands durch die Rote Armee nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs an.

140 Nistkästen haben die Feilers zwischen ihren Reben aufgestellt, auch lassen sie nach der Umstellung zum Biobetrieb 2008 dort allerlei wildes, duftendes Kraut wachsen. Von Hans Feilers großem Winzertisch aus hat man einen unschlagbar schönen Blick auf den Neusiedler See, der in der Ferne im Sonnenlicht glänzt. Es ist ratsam, etwaige Alkoholabstinenzwochen und eine Reise ins Burgenland nicht in dieselbe Zeit des Jahres zu legen.

Überhaupt, die Reisezeit: Die beste ist von Mai bis Oktober. Der überall flache Neusiedler See erreicht oft schon im frühen Juni eine Wassertemperatur, die der Besucher aus Norddeutschland für badetauglich hält. Stürzt er sich in die seichten Fluten, ist ihm die Ehrfurcht der Eingeborenen sicher. Sie würden nie eine Zehe ins Gewässer tunken, ehe nicht die Sonne wochenlang darauf hinabgebrannt und es auf Sommerniveau hochgeköchelt hat.

Mit den schönen Monaten kommt neben der Rosenpracht an vielen Orten auch die Kultur im Burgenland zur Blüte, vor allem die Musik. Schließlich liegt in der Region mit Raiding der Geburtsort von Franz Liszt und mit Lockenhaus das Dorf, in dessen Kirche und Burg der Geiger Gidon Kremer vor Jahrzehnten ein unverwechselbares Kammermusikfestival etablierte. Auf der Open-Air-Bühne in Mörbisch, am Südzipfel des Neusiedler Sees, wird die Operette gefeiert, auch locken Sensationen vom Schlage „Giganten der Blasmusik“. Die heutige Landeshauptstadt Eisenstadt schließlich, im Norden des Burgenlands gelegen, am Fuße des Leithagebirges, das ungeachtet seines imposanten Namens keine 500 Höhenmeter erreicht, war beinahe 30 Jahre lang Wirkungsstätte des Komponisten Joseph Haydn.

Es ist nur ein ganz kleines bisschen übertrieben, wollte man das von den Fürsten Esterházy seit dem 17. Jahrhundert zur Residenzstadt ausgebaute Eisenstadt zum ostösterreichischen Pendant Salzburgs erklären. Der Ort ist in dem Maß kleiner, in dem Ruhm und Name Haydns bescheidener sind als von Mozart. Die Internationalen Haydn-Tage, die in diesem Jahr zum 26. Male (4. bis 14. September) in Eisenstadt ausgerichtet werden, können sich mit dem Salzburg-Wahn nicht messen und wollen dies auch gar nicht. Die Freundschaft zwischen Haydn und Mozart gibt in diesem Jahr dem Festival dennoch ganz selbstbewusst den roten Faden. Und was dem Salzburger die Mozartkugel, ist dem Eisenstädter Altdorfer’s Haydn-Rolle, eine in königsblaue Wellpappe verpackte Süßigkeit des Lokalkonditors Altdorfer, deren Form entfernt an Haydns Schläfenlocke erinnert.

Im Schloss Esterházy, das gelb getüncht auf einer Anhöhe die geistige Mitte der Stadt markiert, finden die meisten Konzerte der Haydn-Tage statt. Für Besucher aus Deutschland kommt dabei dem Empiresaal, in dem einst die Esterházys zu speisen pflegten, mit seinen heute der besseren Haltbarkeit wegen auf einen Gazestoff projizierten Wandtapisserien besondere Bedeutung zu. Gilt er doch als Uraufführungsort des Kaiserquartetts, dessen langsamer Satz zu unserer Nationalhymne wurde.

In den Straßen der Stadt wetteifern die Schaufenster um die kernigsten Bonmots des berühmtesten Gastarbeiters der Stadtgeschichte. Hier geht Haydn über alles in der Welt. Und wer den Festival-Intendanten Walter Reicher über sein Idol reden hört, der versteht, was wahre Liebe bedeutet. Reicher weiß alles über Haydn und kann kurzweilig und lehrreich über ihn erzählen. Unter Einsatz von Beharrlichkeit und Charme hat er mit dafür gesorgt, dass Eisenstadt ein sehr ansehnliches Haydn-Museum bekommen hat (haydnhaus.at). Und wenn Reicher bekennt, dass ihm in dem aus Marmor errichteten Mausoleum Haydns in der Bergkirche von Eisenstadt vor Ergriffenheit manchmal die Tränen kommen, dann ahnt man, dass hier jemand wirklich seine Bestimmung gefunden hat.

Als Haydns Gebeine 1820 nach Eisenstadt überführt wurden, elf Jahre nach der Beisetzung in Wien, fehlte ihnen übrigens der Kopf; er fand sich später. Nachdem der Schädel zweifelsfrei identifiziert war, wurde auch er im Jahr 1954 feierlich im Mausoleum zur letzten Ruhe gebettet. Zu schade, dass Haydn nicht auch noch geboren wurde im Burgenland. Der Stolz der Einheimischen wäre wohl grenzenlos.

Franz Liszt aber kam tatsächlich im Burgenland zur Welt, in Raiding. Das Geburtshaus kann besichtigt werden. Sein altgedienter Hüter Johann Steurer trägt einen Bart, an den er offenbar nur zu hohen Gedenktagen eine Schere lässt, und spricht in einem dem Nichtburgenländer nur schwer verständlichen Idiom. Um so stärker spricht der Genius Loci hier zum Musik liebenden Betrachter. Bescheiden und bäuerlich duckt sich das weiß gekalkte Haus neben einen Neubau, der einen Konzertsaal mit Referenz-Akustik beherbergt. Dort pflegen (nicht nur) Pianisten das musikalische Erbe Liszts bei einem Festival, das Fans mehrmals im Jahr zu Pilgerfahrten nach Raiding lockt.

In Lockenhaus, noch weiter im Süden, hat vor zwei Jahren der Cellist Nicolas Altstaedt das Erbe Gidon Kremers angetreten. In der dritten von ihm gestalteten Ausgabe des Kammermusikfestivals (3. bis 12. Juli), bei dem das Programm stets erst am Konzertabend feststeht, musiziert Altstaedt unter anderem mit dem Quatuor Ébène, seinem Lehrer Eberhard Feltz und dem Schumann Quartett. Lockenhaus bringt traditionsgemäß die Liebhaber des Informellen in der Kammermusik zusammen. Im Dorf mobilisiert das Festival die Kräfte von jedem, der laufen, backen, Karten verkaufen, Notenpulte schleppen oder Betten bauen kann. „Die Künstler kriegen hier kein Fünf-Sterne-Treatment“, sagt Beatrix Baumgartner, Geschäftsführerin des Festivals. „Kost, Logis, Reisekosten werden übernommen, aber Gage bekommen sie nicht. Sie lieben es trotzdem.“

Über eine schöne, wie nahezu überall im Burgenland von Werbeschildern aller Art völlig freie Straße gelangt man westwärts zur Burg Bernstein, die sich Cineasten als ebenso skurriler wie herrschaftlicher Übernachtungsort anbietet. Denn der von einem wunderschönen Garten umgebene Bau ist das Geburtshaus des Grafen Ladislaus von Almásy, dessen Geschichte der mit neun Oscars preisgekrönte Film „Der englische Patient“ nach einem Roman von Michael Ondaatje erzählt. Eine Plakette im Burgtor erinnert an den ungarisch-österreichisch-englischen Afrika-Flieger, Wüstenforscher und Spion.

Das Ehepaar, das heute auf Burg Bernstein die Gäste in den teilweise extrem weitläufigen, liebevoll mit Antiquitäten und Kuriosa möblierten Zimmern beherbergt, trägt den Namen Almásy mittlerweile selbst. Andrea ist die Tochter der Gutsverwalterin, die der Vater von Ladislaus Almásy nach dem Krieg einstellte. Ihr Mann Alexander, der eine gewisse äußerliche Ähnlichkeit mit Peter Handke kultiviert, stammt aus Salzburg und hieß bis zur Namensänderung Berger. Als Herr Berger auf dem Standesamt außerdem beantragte, die Liste seiner Vornamen Alexander Maria Stefan um Erbgraf zu erweitern, holte er sich von den Bediensteten einen Korb. Dabei hätte er womöglich die ersten drei Vornamen hergegeben für einen Erbgraf Almásy.

„Der Wind findet immer neue Wege ins Haus, und der Schnee weht in die Zimmer. Deshalb vermieten wir im Winter nicht“, sagt Almásy. Aber deshalb das Leben hier gegen ein einfacheres eintauschen? „Ich wache jeden Morgen auf und bin im Paradies“, sagt der Gastwirt, der mal Jura studiert hat und nichts mehr liebt als seine Unabhängigkeit. Einst, kichernd erzählt es der verhinderte Erbgraf Almásy dem Gast aus Hamburg, trug ihm ein 50 Jahre älterer Stammgast aus Hamburg allen Ernstes die Adoption an. Es blieb bei der Vater-Sohn-Freundschaft. Als der alte Herr verstarb, reiste Alexander Almásy zum Begräbnis nach Hamburg. Es blieb bislang sein einziger Besuch in unserer Stadt.

Wer sich für Jubiläen der deutsch-deutschen Geschichte begeistert, sollte um den 19. August herum eine Reise ins Burgenland erwägen. Denn da jährt sich zum 25. Male das Paneuropäische Picknick von Sopron, das zu einem Meilenstein des Wendejahres 1989 werden sollte. Gedacht als Friedensdemonstration an der österreichisch-ungarischen Grenze, an der im Mai zuvor schon die Signalanlage untauglich gemacht worden war, sollte für drei Stunden ein Grenztor zwischen den beiden Staaten geöffnet werden. Hunderte DDR-Bürger nutzten die Gunst der Stunden zum Übertritt. Dreieinhalb Wochen später, am 11. September, machten die Ungarn überall ihre Grenzen nach Österreich auf. Ein recht pompös geratenes Denkmal erinnert am ehemaligen Grenzübergang auf der B14, südlich von St.Margarethen, an den historischen Tag. Die Straße ist klein, rundherum ist überall Wald.