Die dänische Ostsee-Eiland hat alles zu bieten: viel Sonne, wilde Klippen, feinsten Sand, üppige Wälder – und Essbares vom Wegesrand

Welch beruhigende Gewissheit: Wenn man mit Thomas Guldbæk unterwegs ist, wird man niemals Hunger leiden. Denn egal, ob im Unterholz, an der Küste oder an einem Bachlauf, der Däne findet immer etwas Essbares. Thomas Guldbæk ist Naturführer auf Bornholm und zeigt Gästen der Insel, welche „Bodenschätze“ es hier zu heben gibt. Meistens muss man sich tatsächlich einfach nur bücken, um die Delikatessen der Natur aufzuheben.

„Wir haben etwa 200 Kräuter hier, aber üblicherweise isst man nicht mehr als 20“, sagt Thomas. „Beispielsweise der Löwenzahn. Er schmeckt natürlich bitterer als das Gemüse, das wir kaufen“, sagt der Mittvierziger, die Bitterstoffe seien durch Züchtungen heute weitgehend aus Salaten und Gemüse entfernt. Die neue nordische Küche wolle diese Barrieren zum ursprünglichen Geschmack niederreißen. Und deshalb berät der Kräuterexperte auch renommierte Restaurants auf der Insel, die mit heimischen Kräutern kochen und experimentieren möchten.

Bei der Wanderung mit dem Dänen muss niemand hungrig bleiben, denn dieser hat vorgesorgt. Auf einer Wiese, auf der jede Menge Löwenzahn blüht, holt er ein Glas mit einer goldgelb schimmernden dickflüssigen Masse aus seinem Rucksack. Mit kleinen Löffeln, die er ebenfalls im Gepäck hat, probieren wir. Honig? Nein, sagt Thomas. Er habe 400 Löwenzahn-Blüten mit Wasser aufgekocht und danach den Sud mit der gleichen Menge Zucker eingekocht, bis die Masse zähflüssig wurde. Ein wunderbarer Brotaufstrich – oder eben eine kleine Leckerei auf einer Wanderung. Ein paar Meter weiter bleiben wir erneut stehen. Thomas zieht eine wilde Lauchzwiebel aus der Erde, säubert sie und fordert uns auf, es ihm gleichzutun. Und tatsächlich, was auf den ersten Blick aussah wie lange dicke Grashalme, sind Büschel von Lauchzwiebeln. Unser Naturguide packt eine Dose mit Kabeljau-Pastete und milde Cracker aus. Zusammen mit der eben geernteten Jungzwiebel ein echter Gaumenschmaus.

Bornholm gilt als die Sonneninsel Dänemarks. Im Rekordjahr 2003 wurden mehr als 2000 Sonnenstunden gemessen. Die Natur braucht im Frühjahr etwas länger, bis sie in die Gänge kommt, etwa drei Wochen ist die Vegetation hier später dran als bei uns zu Hause, aber dafür sei es im Herbst sehr viel länger warm, sagen die Inselbewohner. Sogar riesige Feigen- und Maulbeerbäume sieht man in den Gärten. Der Naturbursche Thomas hat noch eine schöne Geschichte auf Lager: „Wenn du neun Gänseblümchen auf einmal mit dem Schuh verdecken kannst, dann weißt du, dass es wirklich Frühling ist. Danach muss man alle neun essen, dann wird man das ganze Jahr nicht krank.“ Im vergangenen Jahr habe er es vergessen, „und prompt hatte ich die schlimmste Grippe meines Lebens“.

Einer Sage zufolge soll Gott, nachdem er den Norden fertig hatte, noch von allem etwas übrig gehabt haben – wilde Klippen, schäumendes Meer, feinen Sand, herrliche Aussichten und üppige Wälder. Er mischte alles durcheinander und warf es in die Ostsee – fertig war Bornholm. Nur 80 Kilometer von Rügen entfernt, aber mitten im Meer und nur per Fähre zu erreichen, von Sassnitz auf Rügen oder vom schwedischen Ystad. Und an keinem Ort auf der Insel ist man weiter als 15 Kilometer von der Küste entfernt.

Die Fähren kommen im Hafen der Inselhauptstadt Rønne an. Ein Drittel der etwa 40.000 Bornholmer ist hier zu Hause. In Rønne wurde im Krieg fast die Hälfte der Häuser zerbombt, dennoch gibt es sehr malerische Gassen. Was auffällt: Gardinen sind hier nicht üblich. „Die Leute hier haben nichts zu verbergen, da kann jeder reingucken“, sagt Lene, unsere Stadtführerin. Unterwegs passieren wir einen in der Straße eingelassenen groben Stein. „Dieser Stein ist von 1658. Hier starb ein schwedischer Kommandant“, erzählt Lene. In Bornholms wechselvoller Geschichte hatten sich zeitweise auch die Schweden breitgemacht. Der Stein aus der Burg Hammershus erinnert an den Tod des Machthabers. Auch die sogenannte Hauptwache wurde 1743 aus Steinen errichtet, die man von Hammershus holte. Hammershus, deren Ursprünge auf das Jahr 1260 zurückgehen, ist die größte Burgruine Nordeuropas und eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten Bornholms. 74 Meter thront sie im Norden der Insel über dem Meer. 1743 wurde Hammershus endgültig aufgegeben und verfiel über die Jahrzehnte und Jahrhunderte. Nun wird die Burgruine, die pro Jahr etwa 500.000 Menschen besichtigen, etappenweise restauriert und zukunftsfähig gemacht.

Besuchermagneten sind auch die malerischen Städtchen Gudjem und Svaneke. Svaneke mit seinen 1200 Einwohnern wurde 2013 als schönste Kleinstadt Dänemarks ausgezeichnet. „Der Bürgerverein hat aufgepasst, dass das Stadtbild erhalten bleibt“, sagt Lene, die uns durch die Straßen mit den vorwiegend in Gelb oder Bornholmrot getünchten Häusern führt. Etliche Gebäude stehen leer, denn vor allem jüngere Insulaner zieht es aufs Festland, wo sie leichter Arbeit finden.

Seinen Traumjob hat dagegen der Deutsch-Finne Jan Paul hier gefunden. Der 37-Jährige lebt seit neun Jahren auf der Insel und ist Braumeister der Svaneke Brugheri, der Inselbrauerei, die ihr Bier auch auf das Festland liefert – und etliche Spezialbiere sogar nach Australien und Japan. Der Brauereiingenieur experimentiert gern und produzierte beispielsweise schon Bier, dem er Seetang aus der Ostsee beimischte („da roch die ganze Brauerei nach Meer“) oder auch mal Johannis- und Stachelbeeren. Neuerdings hat er sogar Lakritz- und Chili-Bier im Sortiment. „Das ist eine Reaktion auf den Markt, die Leute wollen das“, sagt er

Den Geschmack ihrer Landsleute hat auch Anna Niberg-Zehngraff getroffen, als sie vor zehn Jahren in Gudhjem anfing, Karamellen zu produzieren. Sie war damals schwanger und hatte unbändige Lust auf Süßes, speziell auf die weichen Karamellen, die sie bei ihrer englischen Großmutter als Kind so liebte. Nach deren Rezept bereitete sie in ihrer Küche die ersten Bonbons zu. Inzwischen arbeiten 14 Angestellte für das Unternehmen Karamel Kompagniet, das 450 Läden in Europa und Japan beliefert. Man hat es schon geahnt – auch Karamellen gibt es mit Lakritzgeschmack. Das Etikett auf den Verpackungen ziert übrigens die Zeichnung eines kleinen Mädchens – es zeigt Esther, die Tochter der Firmengründerin.

So, wie es vor allem kleine Manufakturen gibt, die regionale Erzeugnisse anbieten, stehen auf Bornholm auch keine Bettenburgen, keine Riesenhotels an den Stränden. In den Dünenwäldchen hinter dem schier endlosen weißen Sandstrand von Dueodde im Südosten der Insel beispielsweise gibt es zahlreiche Ferienhäuser, und kleine inhabergeführte Hotels sind verteilt über die ganze Insel. Henrik Petersen und seine Frau Henriette Lassen, beide gebürtige Bornholmer, haben 2011 das damals 100 Jahre alte Stammershalle Badehotel gekauft und liebevoll im skandinavischen Stil komplett renoviert. „Unser Motto: Wir möchten ein kleines Hotel mit großer Küche führen“, sagt Hotelchef Petersen. Das Hotel an der felsigen Küste im Nordosten hat 16 Zimmer auf fünf Etagen. Lassen’s Restaurant, das Küche auf Sterne- Niveau anbietet, ist bei Urlaubern wie Einheimischen sehr beliebt. Sogar die dänische Königin Margrethe II. war schon mit Gemahl zum Lunch hier.

Die Küche verarbeitet vorwiegend regionale Produkte und experimentiert mit der Flora der Insel. Auch mit Thomas Guldbæk, dem naturkundlichen Führer, arbeite er deshalb häufig zusammen, sagt Petersen. „Die neue authentische Bornholmer Küche“ ist Titel eines groß angelegten Projekts, das am Landwirtschaftsmuseum Melsted angesiedelt ist. Projektleiter ist Thomas Guldbæk. „Wir wollen versuchen, Wildpflanzen zu kultivieren und wirtschaftlich zu vermarkten“, sagt er.

Regionale Erzeugnisse verwendet auch Chefköchin Anne Jessen, 30, in dem Restaurant Saisons Sommerkøkken (Sommerküche) des fast 80 Jahre alten Melsted Badehotels. Vor dem holzgetäfelten und ganz in Weiß gehaltenen Gastraum liegt eine wunderbare Terrasse direkt am Strand.

Sollte man den leiblichen Genüssen doch einmal allzu heftig zugesprochen haben, kennt Thomas Guldbæk natürlich ein Hausmittel aus der Natur: „Dann nimmt man Wegerich-Samen ein.“ Der wächst überall auf der Insel am Wegesrand. Man muss eben nur die Bodenschätze heben.