Die britische Kanalinsel zieht viele in ihren Bann. Für die Hamburgerin Angelika Harms wurde sie zur neuen Heimat – warum, erfährt man bei ihren Führungen durch die Natur

Schau, da oben, wie schön und akrobatisch sie fliegt“ – Mike Stentiford blickt durch das Fernglas in den Himmel über dem Kanal, wo der Luftartist seine Nummern aufführt. „Die Alpenkrähe war auf Jersey seit mehr als 100 Jahren verschwunden“, sagt Mike. Und was ausgerechnet Schafe – mit ihren vier Hörnern sehen die Manx Loaghtan aus wie einem Fantasy-Film entlaufen – mit der Rückkehr der Alpenkrähe zu tun haben, erklärt der Natur- und Wanderführer auf dem Weg zur Schafherde. 200 Meter tiefer tobt sich der Atlantik an einer spektakulären Felsküste aus.

„Das Jersey-Schaf war für Jahrhunderte das Weideschaf schlechthin für die Insel – robust, anspruchslos, es hat das ganze Jahr hier draußen auf den kargen Flächen gegrast und gelebt. So lange, bis im 18. Jahrhundert die Milchwirtschaft mit der Jersey-Kuh die Hauptrolle in der Landwirtschaft übernahm – das Schaf wurde nicht mehr gebraucht und starb aus“, sagt Mike. Nachdem dieser Küstenstreifen nicht mehr abgegrast wurde, dominierten Farnkraut und Ginster – sie überwuchern alles und bieten kaum Nahrung für Insekten und somit auch nicht für Vögel. Der National Trust for Jersey stellte Land hier an der Nordküste zur Verfügung und übernahm das Habitat-Management.

„Dafür wurden von der Isle of Man einige Langhornschafe importiert, die der ausgestorbenen Rasse am nächsten kamen. Die Schafe haben sich mittlerweile eingelebt und vermehrt. Sie halten den Farn flach und verbeißen den Ginster, infolgedessen hat die Zahl der Insekten zugenommen, und die Vögel haben wieder mehr Nahrung“, erklärt Angelika Harms-Stentiford, Juristin aus Hamburg. An der Seite ihres Mannes Mike marschiert die 63-Jährige auf dem Pfad durch vom Wind verbogene Ginster- und Weißdornbüsche.

Angelika und Mike führen Gäste für den National Trust über die Insel. Mike sucht mit dem Glas die Landschaft ab. Ein Roter Admiral, ein Schmetterling, tanzt durch den Sommermorgen. Mike hat noch etwas gesehen: Ein Bluthänfling, ein schmucker Vogel mit karminroter Haube und Brust, schwirrt durch das Dornengebüsch. „Ich freue mich immer wieder, ihn zu hören und zu sehen“, sagt Mike, „vor zehn Jahren war es hier oben sehr, sehr still!“ Damit ist nicht der Atlantik gemeint, der unten an die Küste donnert und Gischtfontänen in die Luft jagt. Seine Kraft lässt die Felsen erzittern, der Wind trägt das Wummern der Wellen hinauf.

Dass die Natur gewinnt und die Gäste intensiver von der Insel erfahren, dafür sorgen Freiwillige wie Angelika und Mike: „Die hier weit verbreitete Sitte der ehrenamtlichen Arbeit für die Gemeinschaft finde ich sehr überzeugend“, bekennt Angelika. „Man ergreift selbst die Initiative, wo man Bedarf sieht, und jeder kann sich einbringen.“

Mike kam 1958 auf die Insel und hatte schon als Kind einen Hang zur Natur. „Das wurde auf Jersey schnell zu einer Leidenschaft! Ich habe bald einen Freiwilligen-Dienst für den Naturschutz gegründet, dann Naturführungen durchgeführt“, sagt er oben auf der Nordküste. Seinen Lebensunterhalt verdiente er bis zur Pensionierung im Jahr 2000 im Bildungswesen der Naturschutzbehörde. Nun ist Mike im Vorstand des National Trusts und dort für die Belange der Küste zuständig.

Und Angelika aus Hamburg? Hat vor elf Jahren Jersey endgültig zu ihrer Heimat gemacht. Sie kam 1999 zum ersten Mal als Urlauberin auf die Kanalinsel; für zwei Wochen Sommerurlaub. Damals fand die „Blumen-Woche“ statt, mit vielen geführten Wanderungen. Auf einer war Mike ihr Wanderführer. „Die Tour hat mich angesprochen – und der Mann auch: humorvoll, geistreich, warmherzig. Ich habe alle angebotenen Touren mit ihm gemacht, und wir haben das dann zu zweit fortgesetzt. Wir haben uns spontan wunderbar verstanden, konnten stundenlang reden und gemeinsam Ruhe genießen – wir waren sehr verliebt. Im Herbst kam Mike dann das erste Mal nach Hamburg“, erinnert sich Angelika auf dem Küstenweg.

„So haben wir uns hin und her besucht oder zwischendrin getroffen – mal ein Wochenende in Paris, mal eine Reise nach London, wo ich Mike zum Buckingham-Palast begleitet habe, als ihm von der Queen ein Orden für seine Verdienste um den Umweltschutz verliehen wurde.“ Im Januar 2003 heirateten die beiden im Hamptonne Country Life Museum, und Angelika zog endgültig nach Jersey. „Die Entscheidung, wo wir zusammen leben wollten, fiel leicht. Ich war flexibler und hätte es nicht fertiggebracht, ihn von seiner geliebten Umgebung zu trennen, die auch mir als Ruheständlerin neue Perspektiven eröffnete.“

Die Entspanntheit auf Jersey wird ihr immer bewusster; das Leben geht einen Gang entschleunigter. „Wenn ich in Hamburg bin, denke ich immer: Mein Gott, die Hetze der vielen Menschen dort!“, sagt Angelika bei einem Sandwich auf der Terrasse eines Cafés im Nordwesten der Insel, wo wir inzwischen gelandet sind. „Das hier ist Plémont Bay“, ruft Mike in den Wind, „der einzige Ort, an dem Papageientaucher leben.“ Die Bucht liegt gefühlte 1000 Treppenstufen tiefer, und vom Strand ist nicht viel mehr zu sehen als ein schmaler Rest goldgelben Sandes und viel türkisblaues Wasser, das die Felsen umspült. „Der Strand taucht nur bei Ebbe auf“, sagt Mike, „dann gehört er allerdings zu den schönsten auf der ganzen Insel!“ Gerade die Nordküste mit den 200 Meter hohen Felsabbrüchen ist voller verborgener Strände – sichelförmige Gestade, umgeben von schroffen Felsformationen. Viele tauchen bei Flut – Tidenhub bis zwölf Meter – wieder unter, manche sind von Land aus gar nicht zu erreichen.

Dort, wo der Küstenstreifen etwas größer ist, stehen ein paar alte Häuser und geben der Nordküste mancherorts das Gepräge einer Sammlung Piratennester. In der Tat führen verborgene Trampelpfade durch das Ginstergebüsch und verlieren sich im Nirgendwo der wilden Küste, die ganz durchdrungen von geheimnisvollen Höhlen ist und Schmugglern ideale Verstecke bot. „Manche dieser Trampelpfade enden jäh an senkrecht abstürzendem Fels, daher sollten die ausgeschilderten Wege nicht verlassen werden“, mahnen die beiden.

Nach dem Mittagessen sind wir unten an der St. Ouen’s Bay angekommen. Hier findet sich der größte Sandstrand der Insel, der fast den gesamten Westen einnimmt und sich bei Ebbe kilometerweit bis zum Horizont erstreckt. Hinter der Hochwasserlinie hat der Wind kleine Dünen aufgeworfen. Mike setzt sich in den Sand und beobachtet mit dem Fernglas Vögel, Angelika packt ein paar Tüten aus, kniet sich hin und pflückt Grünzeug. „Das ist Sea-Spinach, Seespinat. Die Blätter haben eine festere Oberfläche als der gezüchtete Gartenspinat und einen natürlichen Salzgeschmack – so wie fast alles, was im Einflussbereich des Meeres wächst. Er schmeckt als Salat in Vinaigrette oder ich brate ihn mit Olivenöl und Knoblauch; eine besondere Beilage zu Fisch oder Fleisch“, sagt Angelika erfreut.

Sie erklärt und pflückt weitere Pflanzen, die hier wachsen und die sie gern verwendet: das pfeffrig-scharfe Fenchelkraut und „Seeschnittlauch“, der intensiver schmeckt als die Gartenvariante. „Die verwende ich fein gehackt als Würzkräuter“, sagt sie, schaut zu Mike, der weiterhin Vögel im Visier hat, und lacht. „Mike hat mich zwar in diese Pflanzenwelt eingeführt, genießt sie selbst aber nicht!“ Angelika ist ebenso gern in der Küche wie draußen. „Ich habe schon immer gern gekocht und Neues ausprobiert. Deswegen schätze ich an Hamburg das Multikulti oder weltoffene Element – ich liebe es, in türkischen Supermärkten einzukaufen oder beim Perser zu essen“, sagt Angelika. Und ist schnell wieder die leidenschaftliche Gästeführerin auf Jersey.

„Aus touristischer Sicht bietet Jersey eine große landschaftliche Vielfalt auf kleinem Raum“, schwärmt Angelika über ihre neue Heimat. „Von der wilden Felsküste im Norden über die Weite der Westküste bis zur mediterranen Anmutung der palmenumsäumten Buchten im Süden.“ In St. Aubin, ebenfalls an der Südküste, reihen sich Lokale unterschiedlichen Genres rund um den kleinen Hafen und bilden eine stimmungsvolle Kulisse für einen abendlichen Bummel. Und an Jerseys Ostküste schließlich zeigt sich der Tidenhub in besonders markanter Weise: Bei Ebbe werden viele sonst unter dem Wasser verborgene Felsen sichtbar, und man kann unter fachkundiger Führung – und niemals allein! – ausgedehnte Wanderungen in einer verwunschenen Wunderwelt unternehmen, beispielsweise hinaus zum alten Verteidigungsturm Seymour Tower.

„Ich persönlich liebe Spaziergänge auf schmalen Landstraßen und Fußwegen im Landesinneren; abseits von spektakulären Attraktionen meint man, die Ruhe greifen zu können, und fühlt sich in vergangene Zeiten versetzt. Die Seiten sind von niedrigen Granitmauern oder grünen Wällen voller Blumen und Hecken gesäumt. Aus Granitsteinen gebaute alte Bauernhäuser fügen sich harmonisch ein. Es macht Spaß, ihre Fassaden nach Namen (Häuser haben hier keine Nummern!) und Datums- oder Hochzeitssteinen – mit Initialen, Datum und ineinander verwobenen Herzen – abzusuchen.“ Die Namen der Häuser und Straßen klingen übrigens französisch, und es finden sich darunter Köstlichkeiten wie Rue du Paradis, Rue du vieux Menage und Val Plaisant.

Wir sind am Sitz des National Trusts angekommen, gelegen in einem lieblichen Tal in St. Mary. „The Elms“ ist ein Bauernhof aus dem 18. Jahrhundert, mit schönem Bauerngarten und reichlich Apfelbäumen. Angelika und Mike führen Gäste her; sie sind selbst gern hier. „Es ist wunderschön. Und der National Trust hat alte Apfelsorten angepflanzt, um in dieser lebenden Genbank die verschiedenen Sorten zu bewahren!“, sagt Mike.

Äpfel kann man essen, trinken – und man kann sie zwei Tage lang kochen und einen Brotaufstrich daraus machen: „Black Butter“ machen die Jerseyianer im Herbst, eine Art Marmelade (die auch zu kaltem Braten und Käse schmeckt). Charles Alluto, Chef des National Trusts for Jersey, hat die kleine Gruppe getroffen und schließt die Tür zu einem Nebengebäude des Hofes auf; der Raum riecht rauchig nach Hunderten Jahren Feuer, die mächtige Steinmühle am Boden hat seit ebenso vielen Jahren die Apfelernte des Hofes zermahlen. An der Wand die Öfen, die Pfannen darauf. Darin kocht der Saft, Zucker kommt dazu und Zitrone – und Gewürze wie Zimt. Es ist ein Bild aus längst vergangenen Tagen, wenn der National Trust im Herbst freiwillige Helfer zum Black-Butter-Making versammelt. In den alten Gemäuern werden in geselliger Runde stundenlang Äpfel geschält und geschnitten, gekocht und gerührt. Jemand spielt Akkordeon, es wird gegessen, gelacht und gesungen und ein bisschen was getrunken. Stundenlang, tagelang. Es wird so lange gerührt, bis das Apfelmus dunkel ist und in Gläser abgefüllt werden kann.