Ortwin Widmann hat in Griechenland ein 200 Kilometer umfassendes Wanderwegenetz aufgebaut – und sich sogar für den Gemeinderat aufstellen lassen

Mit der Motorsäge legte Ortwin Widmann los. Teilweise auf allen Vieren robbte er durch das Dornengestrüpp, kratzte sich die Arme auf, zerriss sich die Hemden und lieferte sich einmal sogar eine stichhaltige Auseinandersetzung mit Riesenbienen. Bisweilen kam er so blutverschmiert nach Hause, dass seine Frau Ursula die Hände über dem Kopf zusammenschlug. Von seinem Ziel ließ sich der Schwabe davon allerdings nicht abbringen. Vor acht Jahren begann er, nur mit zweiköpfiger Verstärkung etwa 50 Kilometer zugewucherter Eselspfade auf der griechischen Insel Skiathos freizuschneiden. Er baute Brücken und Geländer, hängte Hunderte wegweisende Schilder auf und ließ sich von Ziegenhirten und Jägern alte, verschlungene Pfade zeigen. So entwickelte er mit viel persönlichem Einsatz und nicht ohne Gegenwind ein rund 200 Kilometer umfassendes Wanderwegenetz. Etwa zwei Dutzend Routen spannen sich seitdem über die gesamte Sporaden- Insel, die er auch in einem Wanderführer beschrieben hat. Eine Route, die quer über die Insel verläuft, hat er den Ortwins-Weg genannt.

„Zwei Drittel Griechenlands bestehen aus Bergwelt, was bietet sich da mehr an, als die Landschaften für Wandertourismus zu erschließen und die sonst eher kurze Saison zu verlängern“, sagt der 67-Jährige. „Außerdem liebe ich die Natur, denn es gibt für mich nichts Erholsameres.“ Und das war für den Schwaben schon immer so. Bei den Pfadfindern ist er groß geworden. Und hat in Österreich und der Schweiz später unermüdlich Berge erklettert. Dass die Insel, eine der grünsten Griechenlands, jenseits von Sonne, Strand und Meer eine ideale Wanderdestination abgeben würde, dafür hatte der passionierte Wanderer schnell einen Riecher, als er mit Ursula in den 90er-Jahren rein zufällig auf Skiathos gelandet war.

Der Grund dafür war damals vor allem das schlechte Wetter bei Urlauben in Bayern und in Österreich. Egal ob sie im Juni oder im September fuhren: Es regnete fast immer. Daher beschlossen sie 1993, viel weiter in den Süden zu fahren. Dorthin, wo es Sonnengarantie gibt. Nach Griechenland. Und sie verliebten sich auf Skiathos so schnell und heftig in die Insel, dass sie noch während des ersten Urlaubs ein Grundstück kauften und über die nächsten Jahre mit Meerblick ihre „Villa Widmann“ bauten. 1997, im Alter von 50 Jahren, verkaufte Widmann seine Firma, eine Handelsvertretung in Heilbronn. Das war ohnehin der Plan. Seitdem leben die Aussteiger auf der Sporaden-Insel.

Nach Deutschland zieht es die Widmanns nur einmal im Jahr. Die Freunde kommen ohnehin auf Skiathos zu Besuch. Ihre drei Kinder mit den Enkeln ebenfalls. Deutsches Essen ist den Widmanns aber auch in ihrer griechischen Wahlheimat wichtig. Und nebenbei läuft oft der deutsche Radiosender SWR4. „Ganz abnabeln geht nicht“, sagt Widmann, der drei Jahre lang Griechisch lernte und es im Grunde fließend spricht. „Wir profitieren davon, dass wir die Integration so intensiv betrieben haben und auf die Einheimischen zugehen.“ Mittlerweile sehen sie sich daher eigentlich mehr als Griechen denn als Deutsche. Selbst auf seinem Akkordeon spielt der Hobbymusiker meist griechische Volkslieder und alte Volksweisen, wenn sie mit ihren griechischen Freunden zusammensitzen, feiern und griechische Tänze tanzen. „Die Griechen feiern anders. Sie sind nicht so steif, sondern singen und tanzen und machen Blödsinn“, sagt er, als er sich nach dem Gespräch die Wanderschuhe anzieht und endlich loswandern will, um etwas von der Insel zu zeigen.

Ziel heute ist eine seiner Lieblingswanderungen: in den „Zauberwald“. Auf dem Weg dahin wird noch einmal deutlich, wie passioniert Widmann ist. Mit einem ziemlich zügigen Wanderschritt, mit Indiana-Jones-Hut auf dem Kopf und den Fingern immer an der Heckenschere, geht er voran und macht mit Wurzelstolperfallen im Vorbeigehen ebenso kurzen Prozess wie mit Zweigen, die sich den abwechslungsreichen Wanderweg zurückerwuchern wollen. Zwischendurch hält er wiederholt kurz an und erklärt erfreut die duftenden Heilkräuter, von denen es seiner Aussage nach rund 1000 Arten auf der Insel geben soll, und all die Blumen, die im Frühjahr blaue, gelbe, rote Farbtupfer in die grüne Landschaft setzen. Aus dem Johanniskraut zum Beispiel macht er ein Öl. „Was für ein Wunder der Natur“, sagt Widmann. „Bei Wunden stoppt das die Blutungen und sorgt für schnellere Heilung.“

Kurz hinter dem verlassenen, kleinen Kloster Kechria beginnt schließlich der „Zauberwald“, wie ihn Widmann genannt hat. „Hier ist die Zeit stehen geblieben, ein Urwald! Da fehlen nur noch die Dinos“, ruft der Wanderexperte begeistert. Ein kleiner Bach plätschert vor sich hin, und das Sonnenlicht fällt zwischen den Ästen der Bäume auf den Boden, die bemoosten Steine und die märchenhaft illuminierten Schachtelhalme. Hauptattraktion sind jedoch die Platanen, die seit über 1000 Jahren urig herumwachsen und von ihm Namen aus der Mythologie erhielten.

Nicht nur in den Zauberwald kommt er häufiger mal. Jedes Jahr läuft er all seine Strecken dreimal ab, um sie zu kontrollieren. „Es gibt schließlich einige Pfade, die man sauber halten muss“, sagt er. Auch darüber hinaus ist er nach wie vor sehr umtriebig: Er engagiert sich mit Vorträgen für Griechenland als Wanderdestination. Auf Skiathos hat er sich für den Gemeinderat aufstellen lassen und einen Wanderverein gegründet. Außerdem sollen noch zwei, drei Wanderwege dazukommen, wenn er die behördlichen Probleme aus dem Weg geräumt hat. „Ich bin eben ein Workaholic“, sagt er und knipst dabei erneut einen Zweig aus dem Weg.