In der Altstadt von Marokkos Königsstadt geht es tagsüber ruhig zu. Aber spätestens vom Einbruch der Dunkelheit an pulsiert rund um den Platz der Gaukler das Leben

Jeden Nachmittag kommen sie und spielen Fußball. Sie bleiben bis spätabends, kicken im Schein der alten Laternen vor der Haustür, dribbeln den Ball durch die sandige Gasse, als ginge es um den Weltmeistertitel. Sechs, sieben Jungs sind es jedes Mal, manchmal schaut ein Mädchen zu. Teams gibt es nicht. Jeder spielt mit jedem, jeder gegen jeden. Mahmut gegen Ahmed, Said gegen Ezzedine und all die anderen.

Ballbesitz zählt – und der Schuss auf die Hauswand, die viele Hundert Flanken lang das Tor doubelt. Zwölf Meter lang, keine zwei Meter breit – das ist ihr Spielfeld. Es ist die Gasse in der Medina von Marrakesch, die zur Haustür eines sogenannten Riad führt. Die Menschen dahinter hören nichts davon. Die Wände der Rue Derb Jdid im Viertel Douara Graoua schlucken jedes Geräusch, die Torschüsse, allen Jubel. Es sind mehr als einen Meter dicke Wände, jahrhundertealt, aus Lehm und Sand und ein paar handbemalten Fliesen. Fenster zur Straße gibt es nicht. Alles Licht, jedes Geräusch dringt ausschließlich vom Innenhof in die Räume, alle Türen, alle Fenster wenden sich der viereckigen Mitte des Hauses zu. Der Innenhof ist Garten, Balkon, Terrasse. Und er ist Wohnzimmer.

Es gilt für reiche Ausländer als schick, ein Haus in der Altstadt zu besitzen

Herrschaftliche Häuser in der Altstadt, jene Riads, sind deshalb von außen kaum erkennbar. Sie sind einzig dem Wohlgefühl der Bewohner gewidmet, nicht eitler Außenwirkung. Und sie sind teure Immobilien geworden, seit es unter den Reichen und Berühmten vor allem Europas als schick gilt, ein Haus in Marrakesch zu besitzen – seit Madonna, Mick Jagger, Alain Delon, Richard Branson und Isabelle Adjani ein paar Wochenenden des Jahres im Eigenheim irgendwo in der Roten Stadt aus Lehm, Mörtel und Farbe im Atlas-Gebirge verbringen. Und die Immobilien sind begehrt, seit immer mehr dieser Häuser im Labyrinth der Altstadt als kleine, individuelle Hotels aus 1001 Nacht betrieben werden, als komfortable Rückzugswinkel für Romantiker stark nachgefragt sind.

Jedes dieser Häuser ist seine eigene Welt, individuell, anders, jedes hat seinen Klang, sein Gefühl. Etwa 750 solcher Wohnhäuser gibt es im historischen Zentrum von Marrakesch insgesamt – etwa zwei Drittel davon sollen bereits in ausländischem Besitz sein, mehr als zwei Dutzend werden als kleine Hotels geführt.

Vor 15, 20 Jahren noch wäre so etwas undenkbar gewesen: Als Ausländer durch die Altstadt von Marrakesch zu gehen war ein Spießrutenlauf, ein Ziehen und Zerren, ein Losreißen und Schimpfen, das an jeder Gabelung von Neuem begann. Die Händler waren aufdringlich, galten als die lästigsten Marokkos. Nur eine Zauberformel half, sich von ihnen zu lösen und ihnen sogar ein Lächeln ins Gesicht zu hexen: „Ana Marrakshi, mon ami“ – „Ich bin Einheimischer, mein Freund“, die Umschreibung für: „Ich wohne hier, lass mich passieren.“ Inzwischen ist das anders. Marrakesch ist ein bisschen moderner geworden, viel sauberer, nicht mehr aufdringlich. König Mohammed VI. ist schuld daran.

Er schickte viel Polizei durch die Gassen, ließ in jeder Hinsicht sauber machen, ordnete hartes Durchgreifen gegen Nepper und Schlepper, horrende Geldstrafen und Haft an, wollte seine Königsstadt zum Vorzeigeobjekt für alle Fremden machen. Er versprach den Händlern, dass sie mehr davon hätten – und behielt recht.

Wer als Ausländer im Riad wohnt, kann heute aus der Tür treten und bleibt so unbehelligt wie im stillen Innenhof – und merkt plötzlich, dass es in der Altstadt Geräusche gibt: das Hufklappern der Maultiere, die vor Fuhrwerke gespannt sind und über das holperige Pflaster einer Gasse traben, das Knattern von Motorradmotoren, Musik aus Kofferradios. Er merkt, dass es Gerüche gibt: den nach frischem Brot aus den Öfen der Quartiersbäckereien der Medina, den Gestank frisch gegerbter Felle, die Süße eines zerbrochenen Parfüm-Flacons. Er bringt den Rhythmus von Marrakesch, trägt das Donnern von Dutzenden Tamburinen herbei, das Stakkato der Hände, die ein paar Hundert Meter weit weg immer schneller auf die stramm gespannten Häute der Trommeln einschlagen: Der Wind verteilt die Musik vom großen Gauklerplatz Djemaa elFna, dem „Platz der Geköpften“, gleichmäßig über der Altstadt. Er bringt den gequetschten Klang der Ghaida-Flöten der Schlangenbeschwörer mit, später den Geruch der Garküchen, den Rauch der Feuer, die zu Füßen der Märchenerzähler auf dem Platz brennen. Und er lässt all das zusammen mit den Rufen der Muezzins von den Minaretten Dutzender Moscheen über den versteckten Höfen fallen, über den Dächern – und über den Gassen, die den Abend lang das Fußballstadion eines Viertels sind. Es ist der Herzschlag dieser Stadt. Tagsüber scheint er auszusetzen. Aber vom Einbruch der Dunkelheit an pocht dieses Herz, pulst das Zentrum allen Lebens.

Nach einem Sprichwort soll, wer einen Tag in Marokko hat, ihn hier verbringen

Nachmittags beginnt der Zirkus auf dem Djemaa el Fna. Er dauert im Sommer bis morgens früh um halb fünf, weil es vorher sowieso zu heiß zum Schlafengehen ist. Die Schlangenbeschwörer, die Wirte der Garküchen, die Feuerschlucker, Akrobaten und Märchenerzähler machen um kurz vor Mitternacht Feierabend, weil es dann empfindlich kühl wird und Zauber Wärme braucht. „Hast du einen Tag in Marokko“, sagt ein Sprichwort, „verbringe ihn in Marrakesch. Hast du nur eine Stunde, verbringe sie auf dem Djemaa el Fna.“

Die Gaukler tummeln sich in dieser über sechs Fußballfelder großen Arena, sind umringt von Musikgruppen. Taschendiebe und Polizisten in Zivil sind zahlenmäßig annähernd gleich stark, sodass es nicht mehr zu so vielen Zwischenfällen kommt wie früher. Kartenleger und Numerologen haben Posten bezogen. Nur einer hat diesen Abend eine Öllampe, die anderen weissagen im Dunkeln. Jeder hat die gleichen grünen Plastikhocker für Kunden, als ob sie alle beim selben Ladenausstatter die Minimal-Deko fürs abendliche Geschäft eingekauft haben. Kaum ein Fremder versteht ihre auf Arabisch vorgetragenen Prophezeiungen, kaum einer die Märchenerzähler, um die sich das Publikum schart. Trotzdem fesseln die Stimmen, die Worte. Spätestens die Faszination in den Gesichtern einheimischer Zuhörer schlägt jeden Fremden in den Bann.

Der Sternenhimmel kommt erst spät in der Nacht zum Vorschein, wenn der Wind die Lichter auspustet, die Reste der Rauchsäulen davonträgt und es für ein paar Stunden still wird. Wenn das Zirkuspublikum des Abends auf dem Heimweg ist, zurück durch die stillen Gassen zu den Riads, wird es verfolgt vom Widerhall der eigenen Schritte. Die Fußballer in der Rue Derb Jdid sind diese Nacht fast alle verschwunden. Nur Ezzedine und das Mädchen sind noch da. Sie sitzen auf dem Boden, eng beieinander, plaudern leise, lächeln. Und sie sagen „Bonsoir, bonne nuit“ zu den Fremden, die am Ende der Sackgasse die Haustür aufschließen.