Woanders als in Istanbul will Ara Güler nicht leben. Der Jahrhundertfotograf bereiste die ganze Welt

Sitzt er auf seinem Platz, an seinem Tisch? Täglich kommen Foto-Fans in das Café, das seinen Namen trägt und in dem seine Fotografien an den Wänden hängen. Auch die Tischsets und Servietten im Café Ara tragen als Motiv seine Fotografien aus dem alten Istanbul. Schwarz-Weiß-Fotografien, Impressionen aus einem Istanbul, das es nicht mehr gibt. Sagt Ara Güler.

„Heute kann man in Istanbul nichts mehr fotografieren, nur noch Details“, sagt der Jahrhundertfotograf. Er lebt im Stadtteil Beyoglu, hier ist sein Atelier, sein Büro, sein Archiv. Über dem Café Ara. Es ist das Haus seiner Familie. Hier wurde er geboren, nahe dem Taksim-Platz, der heute der Platz der Demonstranten gegen einen Präsidenten ist, der den Menschen Stück für Stück mehr Freiheit nimmt. Und die Vergangenheit niederwalzen lässt.

Wie steht er zu den aktuellen Entwicklungen? „Das ist meine Stadt, woanders könnte ich nicht leben“, sagt der Mann, der die Welt fotografiert hat. Und: „Wenn es schwierig wird, darf ich meine Geliebte erst recht nicht verlassen, oder?“, sagt er und lächelt wehmütig. Ein Lächeln wie ein ganzes Leben. Ein Leben, das er durchfotografiert hat.

Ara Güler kommt aus einer armenischen Familie. Und mit den Armeniern sind die Türken übel umgegangen. Fast jeden Tag sitzt er in „seinem“ Café an der kleinen Seitenstraße der Istiklal-Caddesi, des Istanbuler Boulevards. Dort sitzt er an seinem Tisch, bespricht mit seinen Assistenten neue Ausstellungen, trifft sich mit Journalisten, Freunden, Galeristen und mit Menschen, die mit einer seiner Fotografien ein altes Stück dieser so rasant modern werdenden Metropole mit nach Hause nehmen und bewahren wollen.

„Das alte Istanbul gibt es nicht mehr“, sagt Ara Güler. Bulldozer walzen über Jahrhunderte gewachsene Stadtviertel platt, die Bewohner werden in Satellitenbauten am Stadtrand umgesiedelt. Ihre Wohnungen liegen auf dem Schrottplatz der Schickeria, an ihre Stelle treten Apartment-Hochhäuser mit teuren Prestigeobjekten.

Ara Güler sieht müde aus. Und traurig. Wenn er durch sein Istanbul streifte, mit der Kamera in der Hand, begegneten ihm Männer mit Eselskarren, Schuhputzer, Wasserverkäufer, Fischer. Er nahm sie alle in den Fokus, und sie ließen ihn gewähren, denn er war einer von ihnen. Die große Pose mochte Ara Güler ohnehin nicht, er wollte das Leben, das tägliche Leben, und davon gab es in jedem Jahrhundert in der großen Stadt am Bosporus genug. Istanbuls Chronist formuliert das so: „Ich habe nicht das vergangene Istanbul fotografiert, sondern das verlorene.“

Sein Vater war Apotheker. Und Kunstfreund. Er führte seinen Sohn in die Künstlerwelt ein. Ara Güler studierte erst Schauspiel, dann Wirtschaftswissenschaften. Fasziniert war er vom Kino. Doch er wählte das stehende Bild und wandte sich der Fotografie zu. Gelernt hat er sie nicht. „Es kommt auf das Sehen an, auf die Ästhetik, auf die Sinne“, sagt die Foto-Legende.

Erst arbeitete er für die Zeitung „Yeni Istanbul“, dann wurde er Nahost-Korrespondent für den „Stern“, für „Paris Match“, für „Time Life“. 1956 lernte er die Fotografen Henri Cartier-Bresson und Marc Riboud von der Foto-Agentur Magnum kennen. Er reiste in alle Welt, wurde für seine Aufnahmen vielfach ausgezeichnet. Meistens stehen bei ihm die Menschen im Vordergrund. Nicht der, der sie fotografiert hat. Neben den Frauen, Männern und Kindern, den Fischern und Schuhputzern, Wasserverkäufern und Kastanienröstern in Istanbul fotografierte er berühmte Leute wie Winston Churchill, Indira Gandhi, Maria Callas bis zu Picasso. Das Museum of Modern Art in New York nahm ihn in den Kreis der Meister der Farbfotografie auf. Die Türkei ernannte ihn 1999 zum „Fotograf des Jahrhunderts“. Doch Ara Güler blieb sich treu. Und seinen Menschen, seinem Istanbul. Gleichwohl er in alle Welt reiste. Und doch meint, wenig gesehen zu haben. Sein Kiez ist Beyoglu.

Was sagt der 85-Jährige zur Entwicklung der Fotografie? Von Schwarz-Weiß zur Farbe? Von analog zu digital? „Das ist nicht entscheidend. Entscheidend ist das Auge, das Gespür für Ästhetik. Und für Menschen“, sagt der Mann, der sie alle hatte, die Canons und Nikons, Schuhputzer und Churchills.