Auf der Reisemesse ITB in Berlin übertreffen Urlaubsländer einander mit Offerten. Die perfekte Destination für die Familie zu finden bleibt schwierig

Wir sind eine unkomplizierte Familie, besonders in Ferienfragen. Der kleine Sohn will Geheimverstecke bauen, der Große wünscht sich „was Cooles“, um uns wenige Minuten vor der Abfahrt mitzuteilen, dass er nun doch mit den Kumpels auf ein Festival fährt, und die Gattin hätte gern was mit Kräuterstempeln oder Klangschalen, weniger, weil sie an den Heilkrafthokuspokus glaubt, sondern vielmehr, weil sie Entspannung durch Rituale findet.

Und ich? Muss auf die ITB, um für meine Lieben das ideale Reiseziel für den Sommer klarzumachen. Das Premiumpartnerland des Jahres ist Mexiko. Es wirbt mit „en casa“. Die Türkei hält mit „home“ dagegen. Beide Destinationen sind damit aus dem Rennen. Warum soll ich mich in Flugzeugfoltersitze falten, wenn eh alles ist wie zu Hause. Wobei: Die türkische Schwarzmeerküste hat derzeit durchaus ihren Reiz: Kann man von dort aus bis nach Simferopol gucken? Die Inspektion des Urlaubsziels Ukraine in Halle 2.1 heben wir uns noch auf, als Joker.

Der Welt größte Reisemesse ist leider nicht nach Bedürfnissen geordnet, sondern nach Ländern, obgleich der moderne Tourist längst über-national entscheidet. Die Gegend ist egal, solange wir keine lange Anfahrt haben, das Meer vor der Tür schwappt und im Hinterland ein paar Viertausender warten, sofern wir per Animation keine Rheinländer kennenlernen müssen oder SUV-Fahrer, weil unsere Klapperkarre daneben sehr mickrig aussieht und wir uns diskriminiert fühlen. Falls ich mir noch was wünschen darf: Kinder ohne Kopfhörer, eine Unterkunft, die nicht „Anlage“ heißt, niemals Themen-Büfetts mit Kleidervorschriften und bitte nicht so viele regionale Produkte mit Knorpel drin.

Es dauert nicht lange, und man fühlt sich wie in einem bunten Reisekatalog

Wir sind ja nicht eigen, aber sollte ich auf einer Speisekarte Begriffe wie „light“, „laktosefrei“ oder „Bärlauch“ finden, reisen wir ab. Ernährungshysterie und Allergiefachgespräche haben wir schon hierzulande. Was sind nun meine Urlaubswünsche, außer Zuhausebleiben? Eigentlich nur einer: Kajak lernen, aus persönlichen Gründen.

Vielleicht könnten wir mal wieder die Schweiz versuchen, die haben doch Seen. Ach nee, geht ja nicht, der Volksentscheid. Tatsächlich verströmen die Holzstände der Eidgenossen etwas Trutzburghaftes, im Hammer-Slogan „natürlich“ schwingt Abwehr mit. Ja, Ausländer fühlen sich unnatürlich an, das wissen wir von den Anti-Touristen-Demos Berlin-Kreuzberger Spießer.

Also weiter im Prospekt-Slalom, immer gehetzt von der Frage: Was könnte den Kindern gefallen? Was ginge bei der Gattin durch? Und wo gibt´s Kajak? Nach spätestens 350 Metern Messeslalom verschwimmt alles. Überall Stände mit Naturbildern, an denen Heftchen mit Schiffchen lagern. Auf magische Weise wird die ITB ein einziger bunter Katalog, supranational und mit Falschheit durchwirkt: Nach dem zehnten Sonnenuntergang, dem zwölften Folklorekostüm und der zweiundzwanzigsten Wellness-Drohung ist die ganze Welt Tropical Island. Chile, Masuren – Hauptsache, Italien. ITB, das heißt: Alle sind im Kino, alle wissen, dass es Fake ist, alle fühlen sich leidlich unterhalten wie in irgendeiner ABBA-Show auf irgendeinem Kreuzfahrtschiff. Gibt man „Südtirol“ oder „Island“ in die Suchmaske ein, kommt immer „ab-in-den-urlaub“ als Ergebnis.

Wie mutig klingt dagegen ein Stand wie „Schlesischer Cluster Kommerzielles Angebot K8 Zone“, garantiert wildkräuterfrei. Wohltuend hart auch der Ausflug in die IT-Halle. Hier geht es darum, die Skalierung der Hospitality Industry zu optimieren. Endlich sagt’s mal einer: Wenn es hier überhaupt Erlebnis und Genuss gibt, dann das digitale Steuern individualitätsversessener Lemminge.

Das aussichtslose Bestreben, besonders besonders zu sein, mündet in einer semantischen Angleichung aller Urlaubsregionen. Egal ob nah oder fern, Ost oder West, man bedient sich aus demselben Textbaukasten. „Geheimnisvoll“ geht immer, ist in Wirklichkeit aber eine zuverlässige Chiffre für große Insekten im Bad. Ein Dauerbrenner ist „Genuss“, vielleicht die größte Lüge. Denn ähnlich wie „Glück“ genießt der Mensch ja vor allem ungeplante Situationen. „Genuss“ kann eine Dose lauwarmen Tankstellenbieres mit den richtigen Leuten bedeuten, aber ganz bestimmt nicht Ohrputzstäbchen mit Genusslyrik von Goethe. Brutaler als der Genussdruck ist nur der Erlebniswahn. Wird in einem Erlebnishotel ein Erlebnis-Menü kredenzt, weiß der Gast: Jetzt wird’s fad. Denn wie jeden Abend wieder läuft ein akribisch geplantes und auf Massentauglichkeit hin optimiertes Programm ab, an dessen Ende der Nachtisch flambiert wird, die Kinder „Ui“ machen und Vati mit dem iPad knipst, das er fast im SUV hätte liegen lassen – das ultimative Erlebnis. Morgen früh erleben wir dann Nordic Walking rund um den Naturkuhstall. Und teilen das Selfie auf Facebook, damit die anderen miterleben können.

Womit wir bei einem Grundsatzkonflikt der Urlaubsbranche wären, die ja „Industrie“ heißt, weil möglichst viele Menschen möglichst standardisiert abgefertigt werden müssen, damit es sich lohnt. Die Kunden wiederum hätten es gern möglichst individuell, um zu Hause prestigeträchtige Sätze sagen zu können wie: „Die haben ihr Olivenöl selbst gemacht.“

In Krisenregionen winken Schnäppchen, fährt man deshalb auf die Krim?

Weil der Wunsch nach Maßarbeit und die überwiegenden Discounter-Angebote nicht zusammenpassen, muss Emo-Sprache das Unvereinbare zusammenkleben. Werbevokabeln wie „unvergesslich“ und „Momente“ und „mit allen Sinnen“ sind das Qualitätssiegel für Sterbenslangeweile beim unvergesslichen Erlebnis-Pilates-Moment. Die Slowenen haben die Buchstaben zwei bis fünf in ihrem Landesnamen „Slovenia“ fett gedruckt und noch ein „Feel“ dazugepappt. Daneben steht ein Gladiator in Nahkampf-Montur, weil 2014 dort ein historischer Jahrestag ist. Wie im Möbelhaus – da ist auch jedes Wochenende Jubiläumsverlauf.

Und wo bleibt nun mein Kajak? Handfestes haben die Genuss-Gurus leider selten zu bieten. Polen als „Gastgeber der Volleyball-WM“ (2014) oder Winterberg als „Gastgeber der Bob-WM“ (2015) sind immerhin dicht dran. Die deutschen Tourismus-Werber wagen im Jahr 25 nach Mauerfall gar, dieses unser Land als „barrierefrei“ anzupreisen – ein echtes Alleinstellungsmerkmal. Nach dem Besuch im Hofbräuhaus oder der Moselweinprobe muss man ja nicht auch noch stolpern.

Was ist jetzt mit der Krim? Kann man da Kajak fahren? Der Urlaubsfuchs weiß: In Krisenregionen winken Schnäppchen. Und moralisch ist es obendrein. „Gerade in dieser Situation“, sagt Dr. Stefan Thelen vom EU-Projekt „Krim-Tourismus“, sei eine Solidaritätsbekundung wichtig, ein entschlossenes Jetzt-erst-recht. „It’s all about Ukraine“, steht an der Wand, darunter ein riesiges Bild vom Maidan, wobei nicht klar ist, ob die vielen Menschen Silvester feiern oder das Zielfernrohr von Heckenschützen im Nacken haben.

Ein älterer Herr, der den Russland-Feldzug offenbar noch nicht ganz verarbeitet hat, hält den jungen Damen am Stand einen Vortrag über Stalinismus. Die schlechte Nachricht: Dieser Tage ist es ein undankbarer Job, für Urlaub auf der zukünftig ex-ukrainischen Halbinsel im Schwarzen Meer zu werben, zumal der Stand der Russen gleich gegenüberliegt. Die gute Nachricht: Nirgendwo ist es einfacher als hier. Denn ITB bedeutet, dass Korruption, Killer und Putins Machtspiele konsensual ausgeblendet werden, verbissener als im russischen Fernsehen.

Das mit Putin sei nicht so ernst zu nehmen, sagt Kateryna aus Jalta also tapfer und preist ihre Heimat als perfektes Reiseziel. Meiner Familie empfiehlt die Sales Managerin das Levant Eco Hotel. Der Deutsche, klare Sache, trennt auch am Vorabend des Kriegs seinen Müll. Mondäner gehe es in Liwadija zu, wo sich die Siegermächte noch vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs trafen. Ganz in der Nähe hat auch der Herr Janukowitsch seine Sommerresidenz, die er dieses Jahr aber wohl kaum nutzen wird. Was das Anwesen pro Woche kostet, kann Kateryna nicht sagen. Aber Kajaks gäbe es in der Gegend reichlich. Nach der ITB würde sie gern in Berlin bleiben, sagt sie zum Abschied. Aha, aber ich soll auf die Krim. Das Schöne am Tourismus ist seine aufrechte Ehrlichkeit, oder um es auf ITB-Deutsch zu sagen – „Authentizität“.

Und wo soll ich jetzt Kajak fahren? Vielleicht doch zurück nach Deutschland, in Sachsen-Anhalt haben sie immerhin flauschigen Teppich. Wo kann man denn hier Kajak fahren? „Auf der Bode“, sagt Herr Schüler von der Wirtschaftsförderung in Staßfurt, „einfach mal den Boris anrufen.“ Er schiebt einen Flyer mit Boris’ Nummer herüber und ergänzt, dass es genau 197 Kilometer seien bis in die Hauptstadt. Hurra, präzise Informationen ohne Emo-Müll, ohne Bärlauch oder Putin.

Wir fahren diesen Sommer nach Sachsen-Anhalt. Ich spüre schon die erlebnishungrige Begeisterung meiner Familie. Es werden unvergessliche Momente.