Der Inder Ranveer Singh Shekhawat begleitet seit 20 Jahren Touristen durch sein Land. Zwischen Tuk-Tuk, „Tata“ und Taj Mahl verrät er, dass Amerikaner ihren Mittagschlaf brauchen, Deutsche es immer genau wissen wollen und was typisch indisch ist.

Seine Handflächen presst er zum Gruß vor der Brust zusammen. Seine großen braunen Augen ruhen auf der Busladung Touristen, die aus dem Indira-Gandhi-Flughafen in Delhi kommen. „Namaste“, sagt Ranveer und übersetzt im gleichen Atemzug: „Willkommen in Indien!“ Ranveer Singh Shekhawat. 44 Jahre alt. Polohemd, Sonnenbrille, strahlend weiße Zähne. Geboren in einem 500-Seelen-Dorf, 180 Kilometer entfernt von Jodhpur im Bundesstaat Rajasthan. Indien ist seine Heimat, seit 20 Jahren begleitet er Touristen durch sein Land.

Besonders beliebt ist der Norden des Subkontinents. Das Land der Maharadschas. Die vielleicht schönste touristische Route führt durch das „Goldene Dreieck“ zwischen Delhi, Jaipur und Agra. Zum Start der Tour gibt es aber erst mal die hässliche Seite Indiens zu sehen.

Ranveer spricht Deutsch mit indischem Akzent – aus „sch“ wird „s“, zum Beispiel: „swierich“! Er spricht von 33 Millionen Göttern. Redet darüber, dass drei Viertel der Inder Hindus sind. Es ist Sonntag. Heute wird Surya, der Sonnengott, verehrt. Während der Fahrer den klimatisierten Bus hupend durch die wabernde Masse aus Tuk-Tuks, Autos und Schrott-Fahrrädern manövriert, folgt Ranveer den Blicken seiner Touristen.

Eine halbe Million Tuk-Tuks gibt es in Delhi

Wer zum ersten Mal in das Land der Gegensätze reist, den bedrückt die augenscheinliche Armut. Millionen Menschen, die in Slums leben, an jeder Straßenecke bitterarme Bettler, die auf Almosen hoffen, und der ohrenbetäubende Lärm. „Eine halbe Million Tuk-Tuks gibt es in Delhi, ein Euro kostet der Liter Benzin. Wer sich ein Auto leisten kann, fährt unsere Marke ‚Tata‘“, sagt Ranveer stolz. Bekannt wurde „Tata“ auch als Produzent des billigsten Autos der Welt: Den Tata Nano gibt es schon ab 2000 Euro.

Vorbei an Kühen, die mitten auf der Kreuzung stehen und am Straßenrand im Müll wühlen. Ranveers Kommentar: „Heilige Kuh, arme Kuh.“ Vorbei an prächtigen Bauten aus der Vergangenheit. Vorbei an ärmlichen Kindern ohne Zukunft. Indiens eigenartige Schönheit wird vertont mit Ranveers Singsang-Monolog.

Der Gestank der Müllberge, der Smog, der sich über Delhi legt wie eine Käseglocke. All das ist wie eine Wand, gegen die man beim Aussteigen rennt. Indiens Kontrast aus Schönheit und Schock, der den Besucher zerreißt.

Ranveer weiß, was seine Touristen jetzt brauchen: Willkommensdrinks und Blumenketten. Ab ins Hotel. Fleißig schnuppern gegen den Gestank der Straße. „Hindus opfern Blumenketten, meist aus gelben Tagetes, weißem Jasmin und Rosen. Europäer und Amerikaner riechen immer sofort daran, aber die Inder tun das nicht – das entweiht die Blumenkette“, sagt er ohne Vorwurf in der Stimme. Die Inder. Ranveer spricht über seine Landsleute, als wäre er keiner von ihnen. So, als sei er nur die Schnittstelle zwischen zwei Welten. In den kommenden Tagen wird er typisch indisch mit dem Kopf wackeln – was übrigens Ja und Nein bedeuten kann –, wenn er mit dem Busfahrer, dem Denkmal-Bewacher oder einer Frau im Dorf spricht. Und er wird seine Besichtigungen typisch deutsch gestalten. „Amerikaner und Engländer brauchen immer Mittagsschlaf, Deutsche nicht. Mit einem englischen Touristen brauchst du eine Stunde für die gleiche Tour, mit dem Deutschen drei, weil der immer alles ganz genau wissen möchte“, sagt Ranveer und lächelt. Für ihn steht fest: „Wer als Guide nicht studiert hat, kann mit Deutschen nicht arbeiten.“

35 Millionen Menschen Zuwachs jedes Jahr. 1,2 Milliarden Inder insgesamt

Deutsch gelernt hat die Nummer zwei von vier Geschwistern in einem Acht-Wochen-Intensivkurs während des Studiums. „Das war 1996 in Mumbai, ich studierte Geschichte und arbeitete nebenbei als Stadtführer. Dann kamen immer mehr Besucher aus Deutschland“, erinnert sich der Mann mit den schwarzen Haaren, die an den Schläfen grau schimmern.

Unterwegs von Delhi nach Jaipur spricht er über den Bevölkerungsboom in seinem Land: „35 Millionen Menschen Zuwachs jedes Jahr. 1,2 Milliarden Inder insgesamt.“ Die Gesellschaft ist gespalten, das Kastensystem erlaubt nur wenig Mischung. Ranveers Familie gehört zur zweiten Kaste. Für die Hindus gibt es vier: Die höchste Kaste ist die der Brahmanen – hinduistische Priester oder Gelehrte. Dann folgt die Kaste der Krieger und hohen Beamten. Darunter kommen die Bauern und Händler. Die niedrigste ist die Kaste der Shudren, der Knechte und Diener. „Und es gibt Menschen in Indien, die zu keiner Kaste gehören: die Paria. Sie sind sehr arm und machen die schmutzigsten Arbeiten. Die Inder nennen sie die ‚Unberührbaren‘“, sagt Ranveer und deutet auf die Bettler, die in Wellblechhütten am Straßenrand hausen.

Im Land der Gegensätze liegt die Armut direkt neben dem üppigen Reichtum. Ein atemberaubender Blick bietet sich bei der Fahrt durch die Bergketten des Aravalli-Gebirges. Dort thront einer der prächtigsten Paläste Indiens. Fünf Millionen Besucher kommen jährlich in den einstigen Königssitz Fort Amber. Besonders beeindruckend: die Spiegelung der Burg in dem darunter gelegenen See. Hoch zur Palastanlage, in der tonnenweise Gold und weißer Marmor verbaut sind, geht es am schönsten auf dem Rücken eines Elefanten.

Eine rosarote Stadt nur für den Prinzen

Durch Jaipur, Hauptstadt des Bundesstaates Rajasthan – nur wenige Kilometer entfernt –, lohnt sich dann eine Fahrt mit der Rikscha. Jaipur wird auch die „rosarote Stadt“ genannt, denn als vor 150 Jahren Besuch des Prinzen von Wales anstand, wurden die Häuser kurzerhand in Rosa angestrichen – der Farbe für Willkommen. Malerisch schön ist das inmitten eines Sees nahe Jaipur gelegene kleine Lustschloss Jal Mahal, das Ende des 18. Jahrhunderts von dem damaligen Maharadscha Madho Singh I. erbaut wurde.

Schön und schockierend ist auch das Bild, das sich auf dem Weg in den Ranthambore National Park bietet. Vor dem Fenster ziehen karge Landschaften vorbei. Zwischen buschigem Elefantengras unter knorrigen Kameldorn-Akazien suchen Ziegen Schatten. Die ausgetrockneten Felder verschwimmen im Vorbeifahren zu einem Farbenmeer aus Ocker, Orange und Gelb. Immer wieder tauchen knallige Punkte darin auf. Es sind Frauen mit bunten Saris, die in der Mittagshitze arbeiten. Auf ihren Rücken tragen sie geflochtene Körbe, auf ihren Köpfen balancieren sie Krüge. Sie holen Wasser, sammeln Zweige und pflanzen Zwiebeln. Vorbei an Männern mit weißen Turbanen, die vor Lehmhäusern sitzen und Karten spielen. „Ihr Turban ist weiß, daran erkennt man die Bauern. Aber arbeiten tun sie trotzdem nicht, sie trinken lieber“, erklärt Ranveer. Er ist schon unzählige Male durch Dörfer wie dieses gefahren. „Die indische Frau ist eine lebendige Waschmaschine“, sagt er. Mädchen haben wenig Chancen. Wenn sie überhaupt die Chance bekommen, zu leben. Immer noch werden in Indien unerwünschte weibliche Babys getötet. Die Regierung zahlt inzwischen Prämien von 80 Euro für jedes lebend geborene Mädchen. Trotzdem ist laut Uno-Studie die Sterblichkeitsrate von Mädchen bis zum fünften Lebensjahr um 75 Prozent höher als die von Jungen.

Mädchen aus niedrigen Kasten verkaufen Kunsthandwerk

Ranveers Tochter Urvahsi ist zwölf, sein Sohn Karanver acht Jahre alt. Ihm ist es wichtig, auf die Arbeit von Initiativen wie Dastkar aufmerksam zu machen. Diese von Frauen geleitete Organisation im Ranthambore National Park ermöglicht es jungen Mädchen aus niedrigen Kasten des Dorfes, ihr Kunsthandwerk zu verkaufen. Anstatt auf dem Feld zu arbeiten, nähen sie Schals, Taschen und Tischdecken und verkaufen sie weltweit.

„Meine Tochter kann jetzt zur Schule gehen, und ich verdiene Geld“, sagt Kanti Devi. Die 25-Jährige arbeitet seit vier Jahren in der Kooperative und verdient genug, um ihren Kindern Kajl, 8, Arti, 4, und Bishno, 6, Kleidung zu kaufen – und Bücher. Das betont die junge Frau, die mit 15 verheiratet wurde. In Indien sind nur rund fünf Prozent der Ehen Liebeshochzeiten.

Dabei ist Indien für das Denkmal einer großen Liebe berühmt. Atemberaubend schön ist das Taj Mahal – am Fluss Yamuna in der Stadt Agrar gelegen ist es der absolute Höhepunkt der schönen Route durch das „Goldene Dreieck“. Großmogul Schah Jahan ließ das Mausoleum aus weißem Marmor im 17. Jahrhundert für seine verstorbene Lieblingsfrau Mumtaz errichten – 22.000 Arbeiter brauchten dafür 20Jahre.

Ranveer und seine Touristen sind verzaubert – wie jedes Mal. Wie oft er das eine der sieben Weltwunder schon gesehen hat, kann er nicht sagen. Das Monument steht für die große Liebe, die er nicht erlebt hat. Auch Ranveers Ehe wurde typisch indisch arrangiert. 1999 heiratete er eine Frau, die er sich nicht ausgesucht hatte. Eine Frau, die er nicht liebte. Daran hat sich bis heute nichts geändert. „Wir sind nicht geschieden, aber leben in getrennter Ehe – für die Kinder“, so erklärt das Ranveer. Das Glück seiner Kinder sieht er im Ausland. London oder so. „Sie kommen nach dem Studium bestimmt nicht nach Indien zurück!“ Dabei wird ihr Vater dann ein Hotel in der Wüste Thar betreiben – wenn alles nach Plan läuft. Ranveer hat einen Traum. Sein Traum hat 40 Zimmer und soll 2016 Eröffnung feiern. Dann begrüßt er seine Gäste wieder mit gefalteten Händen – aber sie kommen zu ihm. „Namaste!“