Eine gastronomische Reise durch Seoul ist Geschmackssache – hier kriechen Oktopusse noch fast vom Teller

Als der junge Food-Blogger Ho KiHeon die Skepsis in unserem Blick sieht, muss er grinsen. Für ihn ist es nichts Außergewöhnliches, was da gerade auf den Tisch kommt. Für uns allerdings ist es eine der größeren kulinarischen Herausforderungen, die die koreanische Küche so auffahren kann. Die traurige Hauptzutat: der kleine Oktopus, der gerade noch unbehelligt durch ein Aquarium im Schaufenster des Sashimi-Restaurants in Seoul trieb. Nun allerdings, ein paar gnadenlose Scherenschnitte später, liegt er auf dem Teller – roh, in Stücke zerteilt – und versucht trotzdem noch, vom Teller zu kriechen. Die Einzelstücke winden sich um die Stäbchen und saugen sich daran ebenso fest wie am Teller oder am Gaumen, wo sie sich nur mit einem ploppenden Geräusch wieder lösen lassen. Warum er sich noch bewegt? „Weil er frisch ist“, lacht die Restaurantbesitzerin ungerührt und wünscht guten Appetit. Eigentlich aber sind es die Nerven, die dafür sorgen: minutenlang, immer langsamer, aber letztlich fast noch eine halbe Stunde, bis der letzte in Sesamöl gedippte Tentakelrest verspeist ist. Der barbarische, zuckende Oktopus-Imbiss lässt Ausländer kräftig und Tierschützer sicher doppelt kräftig schlucken – und mit den silbernen Metallstäbchen doch lieber zu den weniger abenteuerlichen, dafür köstlichen und hierzulande eher noch unentdeckten Korea-Kreationen greifen. Von denen gibt es im uferlosen Kulinar-Angebot der Megacity Seoul schließlich unzählige.

Die Korea-Küche kann zwar auch deftig. Oft sind allerdings Fisch und Meeresfrüchte involviert, und die kommen in der Regel vom Fischmarkt. Der Weg in die große Halle führt vorbei an Netzen und großen Wannen voller Krebse, die in den nächsten Tagen ebenso gegessen werden wie Massen anderer Meeresfänge, die auf dem Fischmarkt in den ausladenden Auslagen landen. Mehr als 800 Shops und Restaurants reihen sich dort aneinander. Rund 370 Krebsarten werden verkauft. „Meist handelt es sich bei den Ständen um Familienbetriebe, die von Generation zu Generation weitergegeben werden“, erklärt Ho KiHeon, der Ende 20 ist und sich für Touristen der Einfachheit halber Lupy nennt, beim Rundgang durch die schier endlosen Gänge. Viele Fische warten dort noch lebendig auf ihren Verkauf. Sie schwimmen in Aquarien und Plastikwannen, die von den gummibestiefelten Verkäufern und Verkäuferinnen in einem ausgeklügelten System mit Schläuchen für Frischwasser und Sauerstoffversorgung miteinander verbunden wurden. Die Luft in der Halle riecht nach frischem Meerwasser. Und die ganze Szenerie wirkt ein bisschen so, als hätte sich Kinofantast Terry Gilliam eine Filmkulisse für einen Fischmarkt ausgedacht. Wer will, kann sich in einem der Restaurants seinen Fischeinkauf ganz frisch zubereiten lassen.

Wir hingegen setzen die Tour durch die Zehn-Millionen-Metropole fort, die in den vergangenen Jahrzehnten einen rasanten Aufschwung erlebt hat. War die Stadt nach dem Koreakrieg Anfang der 50er-Jahre völlig zerstört und verarmt, hat sie sich mittlerweile zur hochmodernen Überfluss-Boomtown entwickelt. Das zeigt sich auch beim Essen: Es wird anscheinend überall gegessen – vom Bibimbab-Nudelgericht-Klassiker bis zum Tintenfisch-Snack am Straßenrand. Allein die Auswahl an Restaurants und Garküchen, die sich oft auf ein Gericht spezialisiert haben, wirkt grenzenlos.

Lupy steuert aber einen großen Supermarkt an, wo er einiges zeigen will, was die koreanische Küche ausmacht. Den typischen Schnaps, die typischen Gemüse und die fermentierte Küchengrundsäule auf dem koreanischen Esstisch überhaupt: Kimchi. Die wohl beliebteste Variante wird mit Chinakohl hergestellt, gewürzt mit scharfem Paprikapulver und ist dadurch mitunter höllisch scharf. „Doch es gibt insgesamt über 200 verschiedene Sorten“, erklärt der Food-Blogger mit Blick auf die beachtliche Auswahl im Regal. Früher – und teils auch heute noch – wurde der Kimchi in Tontöpfen aufbewahrt oder in die kalte Erde eingegraben, um ihn haltbar zu machen. Heute gibt es spezielle Kühlschränke für Kimchi, der laut Lupy zu jeder Mahlzeit passt. Zum Frühstück, Mittagessen und am Abend sowieso. „Außerdem ist er gut für das Immunsystem, schützt vor Krebs und hat sogar Anti-Aging-Wirkung.“

Kimchi landet natürlich auch später wieder schnell auf dem Tisch, wenn sich die Exkursionen in den weiten Straßenschluchten des Stadtteils fortsetzen, der durch einen Tanz und ein YouTube-Video global bekannt geworden ist: Gangnam. In seinem Song machte sich Sänger Psy über den abgehobenen Lifestyle der Schönen und Reichen lustig. Tatsächlich ist der Stadtteil das Style- und Business-Zentrum Seouls und die wohl teuerste Gegend des ganzen Landes, die zwischen Bürohäusern und Wolkenkratzern eine hohe Dichte an Restaurants und Bars aufweist. Eom In-Hwan, der sich Chuck nennt und häufig als Guide für die O’ngo-Food-Tours unterwegs ist, steuert dort eines der zahlreichen Korean-BBQ-Restaurants an, die ganzjährig Grillsaison haben. Jeder Tisch darin hat einen Grill und ein Abzugsrohr darüber, und die heiße Kohle holt der Inhaber von draußen. Ganz simpel, aber ganz köstlich: Den Fisch, das Rind- oder Schweinefleisch wickelt man gegrillt in große Sesamblätter und bestreicht es mit einer würzigen Paste. Dazu angelt man sich mit den Stäbchen verschiedenste Beilagen, die schnell den ganzen Tisch füllen.

Eine Melange an Gerüchen diverser Gerichte zieht durch die Gassen

Nicht nur dazu wird in Korea gern Alkohol getrunken, und dafür gelten einige Tischregeln, die bei Touristen allerdings nicht allzu genau genommen werden. „Um ihnen Respekt zu zeigen, schenken die Jüngeren als Erstes den Älteren ein und halten die Flasche mit beiden Händen“, erklärt der Food- Guide. „Beim Trinken wendet der Jüngere außerdem den Blick ab, und die Rechnung übernehmen am Ende die Älteren.“ Der Wodka-ähnliche Soju wird gern als Bombe in einem versenkten Schnapsglas im Bier gereicht. Jetzt aber – im nächsten Restaurant im älteren Teil der Stadt nördlich des Han-Flusses – wird der weißtrübe Reiswein Makgeolli gebracht. Die Kellnerin schenkt ihn zu einem feinen Seidentofu ein, der in klaren Formen wie ein kleiner Eisberg vom Teller aufragt. Wir sitzen an einem Ecktisch in dem Lokal, das einer koreanischen Filmberühmtheit gehört. An den Wänden hängen zahlreiche Filmplakate; Woody Allen grinst von einem Bild mit koreanischen Untertiteln.

Zu der entspannten Atmosphäre im Pub of the Blue Star, das in einer Seitenstraße versteckt liegt, bildet der traditionelle Gwangjang-Markt einen denkbar starken Kontrast. Selbst am späten Abend ist es dort pulsierend voll: Überall wird gegessen, getrunken, gelacht, genossen, angestoßen. Eine Melange an Gerüchen unterschiedlichster Gerichte zieht durch die Gassen. Und wir landen in einem Lokal, wo zum süffigen, leichten Bier koreanische Puffer mit einer am Esstisch vielfach verwendeten Schere zerschnitten werden. Knusprig sind sie, vegetarisch und gebraten nach einem Rezept aus Nordkorea, das nur rund 60 Kilometer in Richtung Norden beginnt. Beim Verlassen des Marktes kurze Zeit später hält eine füllige Verkäuferin uns und ein paar anderen Touristen einen fermentierten und knallroten Mini-Krebs zum Probieren vor die Nase. Die Neugierde siegt mit vollem Bauch allerdings nicht. Der Oktopus war heute erst einmal Herausforderung genug.