Es war für Budapester Familien der Höhepunkt des sonntäglichen Familienspaziergangs: Kaffee und ein Stück Torte im Gerbeaud. Das plüschige Café, ein Ort gepflegter Gastlichkeit in zentraler Lage der ungarischen Hauptstadt, am Vörösmarty tér, ist eine nationale Institution. Das vom zugewanderten belgischen Konditor 1858 eröffnete Kaffeehaus war die große Liebe der Budapester, es verschaffte ihrer Stadt metropolen Glanz in der Zeit des grauen Realsozialismus. Touristen aus der DDR, den Ostblockstaaten und dem Westen trafen sich am nostalgischen Kreuzungspunkt ungarischer Kaffeehauspracht. Hinter schweren Samtvorhängen hockten Literaten über ihren Manuskripten, Theatermacher diskutierten. Zwei Marmortreppen führen hinauf, in der meterlangen Vitrine alle kalorienstarken, aber unwiderstehlichen Köstlichkeiten der ausgesprochen süßen ungarischen Zuckerbäckerei. 72 verschiedene Torten, Kuchen, Crèmes und Parfaits, auf der Karte exakt aufgelistet und Tag für Tag frisch zubereitet. Auf das Gerbeaud waren die Budapester stolz.

Ich sitze im unveränderten Ambiente, blank gewienerter Marmor, das edle Backwerk glänzt. Ich kann es mir leisten als Zugereister. Aber Ungarn, die als Lehrer 600 oder als Ärztin 1000 Euro im Monat verdienen, verkneifen sich den Kaffeehaus-Besuch. Der Espresso kostet stolze 3,20 Euro, ein Stück der berühmten Dobostorta sieben und ein Eisbecher zwölf Euro. Erschwinglich nur für die ungarische Rolex-Society. Was ihr Lieblingscafé betrifft, sind die Budapester enteignet im eigenen Land. Wehmütig laufen ältere Leute vorüber, und manche Eltern zeigen ihren Kindern die karamellisierten, cremigen, prallsüßen Tortenköstlichkeiten – für sie ist das Gerbeaud ein Museum. Die Künstler sind längst verdrängt.

Eine internationale Gesellschaft hat die Institution in Toplage übernommen, das Restaurant Onyx installiert und auch noch ein Brauhaus angehängt, in dem bayerisches Bier gezapft wird. Die Kellnerinnen tragen immer noch Schnürschuhe und niedliche Schürzen wie in der k.u.k.-Zeit. Ungarisch sprechen sie nur noch untereinander. Man genießt die güldene Architektur, schaut auf den belebten Platz und ist in einem Stück Ungarn fast ohne Ungarn.