Ein Jahr nach seiner Eröffnung zählt das Museum Louvre-Lens eine Million Besucher und bildet den neuen Mittelpunkt der Kulturregion Nordfrankreich um die Städte Lens, Lille und Calais

Wer gemütlich geht, benötigt für den Weg vom strahlend weißen Art-déco-Bahnhof Gare de Lens zur neuen Attraktion der nordfranzösischen Industriestadt rund 20 Minuten. Hinter dem 1926/27 erbauten Meisterwerk überquert man die Gleise, dann folgt ein Grüngürtel entlang der Trasse der alten Kohlenbahn. Plötzlich taucht man in ein dem Ruhrgebiet ähnelndes Gebiet ein: geduckte Zechenhäuser mit mehr oder weniger gepflegten Gärten. Eine Kirche, eine Schule, Villen von Bergwerksdirektoren. Auf den letzten Metern durch die Rue de la Rochefoucauld leuchtet das Ziel auf, zu dem neuerdings Besucher aus ganz Europa und sogar Übersee pilgern, die vom 36.000 Einwohner kleinen Bergbauort Lens zuvor allenfalls wegen seines Fußballclubs gehört hatten: das Musée du Louvre-Lens.

Vor einem Jahr, am 4. Dezember 2012, eröffnete die Dependance des berühmten Pariser Kunstmuseums auf dem Gelände der 1980 stillgelegten Zeche Nr. 9. Jetzt kann das 150 Millionen Euro teure Haus mit einem von den Machern allenfalls erhofften Erfolg Geburtstag feiern: „Eine Million Besucher, davon etwa 15 Prozent aus dem Ausland, sprechen für unseren Mut, an einem ungewöhnlichen Ort Neues zu wagen“, sagt Raphaël Wolff vom Louvre in der Provinz, der sich deutlich vom rund 200 Kilometer entfernten „Mutterhaus“ unterscheidet – und eigenständig sein will. Dazu dient ein völlig neues Ausstellungskonzept. „Wir sind kein Louvre zweiter Klasse“, sagt Wolff: „Was Kunstfreunde hier finden, ist ein offener Louvre und wertvolle Ergänzung zu dem, was in Paris zu sehen ist.“

Tatsächlich haben sich die Architekten des renommierten japanischen Büros SANAA für eine ungewöhnliche Präsentation entschieden. Verteilt auf dem 20 Hektar großen Zechengelände bieten fünf lichtdurchflutete Pavillons auf insgesamt 28.000 Quadratmeter Fläche für eine feste sowie zwei Wechselausstellungen im Jahr. Erster Höhepunkt für Besucher sind die für neugierige Blicke offenen Werkstätten der Restauratoren und die andernorts verschlossenen Depots, in die aus Platzgründen gut 35.000 Werke aus Paris verlagert werden. Herzstück des Louvre-Lens aber ist die Galerie du Temps: Im 220 Meter langen, fensterlosen Kubus, dessen Wände neutral mit mattem Aluminium bezogen sind, führen auf 3000 Quadratmetern insgesamt 205 Meisterwerke chronologisch durch die Kunstgeschichte zwischen 3000 v. Chr. bis etwa 1850. Der leicht abfallende Raum ist völlig offen, weder Trennwände noch Sichtblenden schaffen Barrieren zwischen Meisterstücken von der Antike bis zu Eugène Delacroix’ französischem Klassiker „Die Freiheit führt das Volk“ von 1830. Dieser kehrt nach zwölf Monaten im Exil nun aber nach Paris zurück. „Unser Konzept ist völlig neu – zwischen allen Epochen und Kunstarten von Skulptur bis Malerei sind hier erstmals freie Blicke, Assoziationen und Querverbindungen möglich. Das hat es so bislang nicht gegeben“, erläutert Raphaël Wolff einen der Erfolgsfaktoren des Louvre-Lens. Ein weiterer: Etwa zehn bis 20 Prozent der Exponate werden jedes Jahr gegen gleichwertige Stücke ausgetauscht. So bleibt der Louvre-Lens ein Museum in Bewegung.

Mit seinem Erfolg ist das Musée de Louvre-Lens der entscheidende Schritt und das gelungenste Beispiel für den Strukturwandel des nordfranzösischen Kohlereviers von der Industrie- zur Kultur- und Kreativregion. Ein Wandel, der sich auch im nur 40 Kilometer entfernten Lille zeigt. Die Metropole ist das Zentrum der seit 2012 zum Unesco-Welterbe gehörenden Region, in der knapp 1,2 Millionen Menschen leben. Bis heute spürt man den Schwung, der Lille seit seiner Ernennung zur Europäischen Kulturhauptstadt 2004 trägt. Zahlreiche einstige Industriestätten wurden zu lebendigen Kulturzentren – vorzugsweise auch in bis dato vernachlässigten Vierteln außerhalb der City. So finden in der früheren Leinenspinnerei Maison Folie im Stadtteil Wazemme heute etwa 250 Veranstaltungen von Musik bis Installation statt. Und auch das Maison Folie de Moulin in den Backsteingebäuden einer alten Brauerei ist ebenfalls zum Anlaufpunkt für kreative DJs, KünstlerInnen oder Studierende geworden.

Die Stadt Lille investiert in die Kultur als einen Motor der Zukunft

Jüngstes Beispiel für Lilles neues Denken ist der ehemalige Güterbahnhof Gare Saint Sauveur, mit dem die Stadt einen weiteren Treffpunkt für Künstler und Designer sowie spannende Ausstellungsräume für innovative Kunst- und Designausstellungen erhalten hat, die einheimische wie weit gereiste Besucher anziehen. Dass hinter dieser Veränderung eine große, vor allem finanzielle Kraftanstrengung steht, bestätigt Stanislas Dendievel. Der 44-Jährige entwirft als oberster Stadtentwickler Visionen für die Hauptstadt der Region Nord-Pas-de-Calais, in der die Arbeitslosigkeit traditionell deutlich über dem Landesdurchschnitt liegt: „Für uns ist Kultur ein Motor der Zukunft. Darum investiert Lille alljährlich zehn bis 15 Prozent seines Haushalts in Kulturförderung aller Art. Das ist viel – und soll so bleiben.“

Dass dieser Kraftakt durchaus lohnende Ergebnisse bringt, erlebt man auch in anderen Städten Nordfrankreichs. Zum Beispiel im nahen Roubaix vor den Toren von Lille, das überall im Stadtbild noch heute erkennbar unter den Folgen des Zusammenbruchs der Jahrzehnte prägenden Textilindustrie leidet. Doch auch in dem flämisch geprägten Ort mit seinem hohen Immigrantenanteil weisen kulturelle Speerspitzen in die Zukunft. Allen voran das Museum Roubaix La Piscine, das 2001 in einem renovierten Art-déco-Bad von 1930 eröffnete und regionale Kunst sowie textiles Industriedesign zeigt und nur zehn Jahre nach seiner Eröffnung mit 200.000 Gästen auf Rang vier der Besuchergunst in Frankreich liegt. Gleich um die Ecke liegt mit La Condition Publique ein früheres Wolllager und -labor, in dem der damals wichtigste Rohstoff für die zahlreichen Textilfabriken und -webereien in der „Stadt der 1000 Schornsteine“ gelagert wurde. Nun ist der Komplex ein aktives Kulturzentrum für Theatermacher, bildende Künstler, Fotografen und für die vielen jungen Gesichter der Region – rund 130.000 Studierende leben im Großraum Lille.

Viele von ihnen studieren hier wie im 100 Kilometer entfernten Hafenort Calais Textildesign. Auch dort, wo noch bis in die 1980er-Jahre etwa 200 Webstühle ratterten und zur Hochzeit um 1900 ungefähr 100.000 Menschen in der Spitzenindustrie arbeiteten, werden Wurzeln, Tradition und Know-how des Industriezeitalters in die Kreativzeit des 21. Jahrhunderts gerettet. Dieser Aufgabe widmet sich vor allem die 2009 in einer alten Spitzenfabrik eröffnete Cité internationale des la Dentelle et de la mode de Calais. Hinter diesem sperrigen Namen verbirgt sich ein lebendiges Industriemuseum, das nicht nur die erfolgreiche Geschichte der lokalen Spitzenindustrie zwischen 1838 und Mitte des vergangenen Jahrhunderts sammelt und zugänglich macht.

Besucher können an originalen Webstühlen zudem live miterleben, wie die noch heute für ihre hohe Qualität bekannte Spitze aus Calais an 100 Jahre alten Webstühlen entsteht – gesteuert von 55.000 Lochkarten mit ebenso vielen Mustern. Die Technik ist robust, das Wissen darum aber sehr sensibel, sagt Museumschefin Anne-Claire Laronde: „Nur ein einziger älterer Mitarbeiter weiß noch, wie diese Lochkarten gemacht werden. Zurzeit ist er krank. Ich wage gar nicht, daran zu denken, was später sein wird.“ Selbst Hightech-Mode, wie sie in den Wechselschauen des Museums zu sehen ist, beispielsweise die Entwürfe der angesagten holländischen Designerin Iris van Herpen, kommt eben nicht ohne das Wissen von früher aus.