Bei einem Spaziergang auf dem Shanghaier Boulevard zeigen sich wie in einem Brennglas die Gegensätze, die die Megacity am Gelben Meer prägen

Eben starrten die Leute noch wie hypnotisiert auf die piepsenden Bildschirme in ihren Händen, nun drängen sie aus dem U-Bahn-Waggon. Der Menschenstrom reißt sie alle mit und spült sie auf die Rolltreppe – dass die Gehtreppe nebenan verlassen daliegt, verleitet niemanden, sie vorzuziehen. Die Luft ist erfüllt von Diskutieren und Reden, Husten und Räuspern. Ständig dudelt irgendwo ein Smartphone, aus einem Radio näselt chinesische Popmusik, und über allem dröhnen Lautsprecheransagen. Auf den Treppenstufen am Ausgang bieten fliegende Händler Sonnenbrillen und Handyhüllen feil. Und kaum sind die Passagiere aus der stickigen Luft des U-Bahn-Schachts aufgetaucht, finden sie sich in einer Rauchwolke wieder. Es zischt, knackt und pfeift; eine Frau brät Tofu auf einem Handkarren. Essen to go auf Chinesisch. Der herbe Duft zieht in Schwaden die Straße entlang.

Huaihai Road, Shanghai, 11 Uhr morgens. Ein Besuch auf dem Boulevard in der chinesischen Megacity ist wie der Blick durch ein Kaleidoskop. Auf seinen gut sieben Kilometern südlich des Stadtzentrums treffen altes und neues China, Rekordwachstum und Tradition, Konsum und Stille zusammen. Manche Gebäude könnten auch in Paris oder New York stehen, so viele internationale Designernamen prangen an den Fassaden. Und doch scheint immer wieder das wirkliche Shanghai durch, das vielfarbige, chaotische, laute – das chinesische eben. Nahe der Altstadt entspringt die Straße als Huaihai East Road – die Unterteilung nach Himmelsrichtungen ist so ortsüblich wie praktisch. Vor den Flachbauten mischen sich Frauen in wattierten Hausanzügen unter die Boten und Businessleute. Die Stoffe, Jacken und Handtaschen aus der einheimischen Fake-Produktion sind in jedem Schaufenster ähnlich quietschbunt.

Dezenter geht es einige Blocks weiter im Oriental Shopping Center zu. Im ersten Stock langweilt sich eine Schöne. Eine Fußspitze schaukelt über einem beängstigend hohen Absatz hin und her, gedankenverloren lässt die Verkäuferin einen Schlüsselbund auf der Glasfläche des Tresens kreiseln. Viel mehr als die Wiener Walzer, die im Hintergrund plätschern, ist in der Schuhabteilung nicht zu hören.

Das Angebot in dem riesigen Kaufhaus ist nicht für jeden Geldbeutel, schon gar nicht für chinesische Verhältnisse. Die Huaihai Middle Road ist die angesagte Shoppingmeile für die Reichen und Schönen Shanghais. Die Straße führt mitten durch die frühere Französische Konzession, jenes Gebiet, das sich die Franzosen im 19.Jahrhundert als eigenen kleinen Staat im Staate erkämpft hatten. Avenue Joffre hieß sie in den bewegten 1920er-Jahren. Platanen am Straßenrand, Kolonialvillen und Gärten zeugen von französischer Lebensart und tropischem Luxus, in denen Geschäftsleute, Künstler und Halbweltdamen damals schwelgten, während in den Fabriken die Unzufriedenheit über die menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen wuchs und den Boden für die kommende Revolution bereitete.

Noch heute leben viele Franzosen in Shanghai. Und Halbweltdamen natürlich auch. „Wenn ich hier in eine Bar gehe, bieten mir ständig Frauen ihre Dienste an“, sagt Hugo Bernard und legt für einen Moment die Französisch-Übung zur Seite, die er gerade einem chinesischen Studenten erklärt. „Es gibt einfach zu viele Ausländer mit Geld.“ Meist meidet er die beliebten Ausgehviertel ringsum, etwa das leicht kulissenhafte Xintiandi, wo Expatriates ihr überteuertes Feierabendbier nehmen. Bernard, er stammt aus dem nordfranzösischen Lille, ist mit einer Chinesin verheiratet und wohnt auf der anderen Seite des Huangpu-Flusses. In die Huaihai Road kommt er, weil er in der Shanghai Library an seiner Doktorarbeit in Politologie schreibt.

Dank ihres exterritorialen Status war die Französische Konzession auch Zufluchtsort der Revolutionäre von 1925. Hier und da erinnern Gedenktafeln daran. So komfortabel wie Soong Qingling in der Villa Huaihai Road Nr. 1843 werden sie es aber nicht gehabt haben. Die Witwe des Revolutionsführers Sun Yat-sen und spätere Vizepräsidentin der Volksrepublik China zog dort 1948 ein. Das Anwesen liegt an diesem Vormittag seltsam verlassen da. Am Eingang stehen Soldaten Wache.

Lilongs, dörflich anmutende Quartiere, verschwinden aus dem Stadtbild

Eine Wärterin mit grauem, bürstenkurzem Haar beaufsichtigt die Leere in den Ausstellungsräumen. So unnachgiebig sie zunächst dreinschaut, so sichtlich freut sie sich, angesprochen zu werden. „Ich bewundere Soong“, sagt sie strahlend und zeigt die Lücken zwischen ihren riesigen Schneidezähnen, „und ich mag das Haus und den Garten.“ Darum arbeitet sie ehrenamtlich in der Gedenkstätte.

Soongs Privatgemächer wirken, als wäre die Hausherrin nur verreist und nicht schon 1981 gestorben: ihr Wohnzimmer mit den schweren Vorhängen; das weitläufige Boudoir; der Garten, in den die Bäume ihre Zweige senken. Das Leben findet anderswo statt. Selbst an der teuren Huaihai Road finden sich hin und wieder Reste historischer Bauweisen. Zwischen zwei Juweliergeschäften führt ein niedriges Tor in eine andere Welt. Dort ducken sich die Häuser zusammen. In der Gasse hocken Frauen und schrubben Wäsche in Metallbottichen, über ihren Köpfen wehen Babystrampler und Büstenhalter auf der Leine. Aus einer Regenrinne tropft Wasser in einen Korb mit Essensabfällen. Von den Lilongs, wie diese dörflich anmutenden Quartiere heißen, hat das rücksichtslose Wachstum der Stadt nicht viele übrig gelassen. Oft reißen gleich daneben Baugruben ihre Rachen auf, orgeln Lastwagen Beton herbei, recken sich halb fertige Skelette von Wolkenkratzern in den Himmel wie Menetekel. Und dann fräst sich zwischen den Geschäftshäusern hindurch ein Lindwurm aus Beton: eine jener Hochstraßen, die den Durchgangsverkehr mal eben eine Handvoll Stockwerke höher legen. Aber auch darunter fahren noch genügend Autos. Das Hupen und Röhren, das Blubbern hubraumstarker Motoren und das Tock-tock betagter Mopeds fangen sich unter der Fahrbahn und in dem Wald aus Trägern. Gleichmütig erklimmen die Passanten die Treppe zur Fußgängerbrücke. Hinter den Schallschutzwänden verfilzen die Geräusche zu einem akustischen Wattebausch, dass die Ohren sausen.

Am westlichen Ende der Huaihai Road hat der mondäne Chic aus der Zeit der Französischen Konzession längst einem heutig-kühlen Bürostil Platz gemacht. Neben Ateliers, Galerien und Buchläden residiert das Café Sculpting in Time mitten im Kreativquartier Red Town District. Eine Kellnerin bringt grünen Tee. Sie arbeite erst seit einer Woche in dem Café, erzählt die zierliche junge Frau, sie sei extra wegen der Red Town aus der Provinzstadt Hangzhou nach Shanghai gekommen. Es klingt, als hätte sie eine Oase erreicht.

Stille, das lehrt die Huaihai Road, ist keine Frage der Phonzahl. Stille ist etwas Inwendiges. In einer Werkstatt zieht ein Instrumentenmacher Saiten auf eine chinesische Laute. Wieder und wieder fährt er mit den Händen prüfend über das seidenglatte Holz, versunken in zukünftige Klänge, die ein Stück Tradition zum Leben erwecken werden. Mag es gleich vor seinem Fenster brausen, brodeln und piepsen – die Welt der Lautsprecher und Smartphones, Autos und U-Bahnen ist für diesen Mann in diesem Moment sehr weit weg.