Der Küstenabschnitt am Schwarzen Meer zeigt ein eher ungewohntes Bild der Türkei, das dem Norddeutschlands ähnelt – nur gibt es dort auch Ibisse, Pelikane und Wasserbüffel

Das Wasser schwappt träge aufs schlammige Ufer, es riecht nach Moder, Sonnenglanz liegt in der Luft, ein sanfter Wind kämmt das Schilf. Die Schotterpiste liegt auf einem Damm und führt in die Einsamkeit. Lange hat das Küstengebirge die Schnellstraße hinter Samsun eng begleitet, der Bergriegel steigt unmittelbar am Schwarzen Meer auf. Doch nun weichen die Flanken weit zurück, sind nicht mehr als eine ferne Kulisse im Dunst. Ismail hat die Schnellstraße in der Ortschaft Ondokuzmayis verlassen und steuert den Wagen durch eine Gegend, die immer einsamer wird. Noch begleiten Viehweiden die Straße, die nun zur Schotterpiste wird. Holzhäuser und Ställe stehen am Wegesrand, in der Luft liegt der Geruch von Holzfeuer, Kühe trotten vorbei. Weiden und Wäldchen wechseln sich ab, es ist sattgrün und lieblich. Yörükler ist der letzte Weiler an dieser Straße. Ziehbrunnen stehen vor den Häusern, und Störche sitzen auf dem Dach.

Mit dem flachen Land und dem ewig weiten Himmel darüber, den Störchen und der Marsch sieht die Gegend aus wie an der Nordsee. Daran, dass wir durch den Norden der Türkei fahren, erinnern die Moscheen, der blühende Oleander, die Weinranken an der Pergola in bunten, üppigen Gärten, Reisfelder. Später die Pelikane und Seidenreiher. Überhaupt ist das hier ein reiches, fettes Land. Die Piste vorbei an Pfirsichstrauch und Pinie, Zuckermais biegt sich schwer und behäbig im Wind. Paprika glänzen in der Sonne. Yörükler bleibt zurück, noch stehen vereinzelte Häuser an der Piste.

Feriendomizile für die Leute aus der Großstadt Samsun seien dies, schätzt Ismail; prächtige Apartments und liebevoll zusammengezimmerte Buden – gemein ist ihnen die Lage am Ende der Welt. Als auch der Eichenwald zurückbleibt, liegt die Gegend ohne Busch und Baum schutzlos vor dem Wind, der vom Schwarzen Meer herüberweht, hier im Hinterland einer wilden Küste. Der Luftstrom nimmt zu, und die Böen tanzen mit den Staubteufeln über die Schotterpiste. Die Gehöfte und die behäbige Geschäftigkeit bleiben weit zurück; es ist einsam geworden.

Links liegen Sumpf und Wasser bis zum Horizont. Darin steht Riet, durch das die Böen fegen und es in grünen Wellen bewegen. Das Rascheln dringt nur leise herüber, der Seewind trägt es fort. Nachdem der Weg über einen Kanal geführt hat, liegen auf der Seeseite mehr und mehr Dünen. Diese Sandbarrieren hat das Schwarze Meer mit seinem ewigen Verbündeten, dem Wind, aufgeworfen – es ist dies das Delta des Kizilirmak, des größten ausschließlich in der Türkei fließenden Flusses.

Nachdem der sich im Hochland Anatoliens zusammengefunden hat und auf der vorletzten Etappe seines Laufes den Bergriegel des Pontischen Gebirges durchbrochen hat, kommt er hier zur Ruhe, scheint auszuatmen, scheint mit 1000 Tümpeln nach mehr als 1300 Kilometern irgendwo am Schwarzen Meer stehen zu bleiben. Der Kizilirmak ist voller Sediment; wird der Lauf des Wassers langsamer, bleibt dies liegen – der Fluss breitet sich immer weiter ins Meer aus. Wind und Wellen werfen ihn wieder zurück ans Land. So entsteht eine faszinierende Landschaft aus Werden und Vergehen. Eine nie fertige Zwischenwelt, nicht für den Menschen geschaffen; unsicher, unfertig. Amphibisch. Nicht mehr Land, noch nicht Meer. Ein Vogelparadies dazu.

Ismail hält den Wagen an. Rechts vom Weg türmen sich Dünen, bewachsen von kratzig-dornigem Gebüsch. Wanderdünen schleichen zwischen Sumpf und Strand, auf den das Schwarze Meer in völliger Einsamkeit mit ausholender Brandung donnert. Blank gewaschenes Treibgut, gebleichtes Holz, wohl vom Kizilirmak am Ende einer langen Reise ins Meer geworfen – sonst nur Kilometer um Kilometer Einsamkeit. Erst weiter im Süden liegen Siedlungen: kleine, einfache Ferienorte wie Cumhurkent.

Dorthin führt ein Stichweg vor Beginn der Seen von der Schotterpiste, dort hat Herr Kara sein Strandcafé, wo er unter anderem Bier und Pide für jeweils zwei Euro serviert. Nachdem er als Bäcker lange in Norddeutschland, zuletzt in Cuxhaven, gearbeitet hat, betreibt er nun sein Bistro am Strand, das Sahil Kafe – und er freut sich, wieder ein bisschen Deutsch zu reden. Weiter nördlich am Ufer vom Schwarzen Meer nur Weite, Wind und Wellen. Plötzlich, auf dem Rückweg irgendwo zwischen den Dünen, riecht es nach Kuhstall. Die Fladen auf dem Sand weisen eindeutig darauf hin. Kühe – hier? Oder etwas Ähnliches? Und dann liegen sie dort; glotzen überrascht, stehen auf, trotten ein paar Schritte fort, die Jungen suchen die Nähe ihrer Mütter. Es sind Wasserbüffel, die hier im Windschatten der Dünen und im Sonnenschatten der knarzigen Büsche liegen. Je weiter wir von der letzten Siedlung fortkommen und weiter in das Delta eindringen, desto häufiger sehen wir sie nun.

Aus den Sümpfen und nassen Wiesen ist ein erster großer, offener See geworden. Davon erstrecken sich nun einige in Richtung der Mündungsspitze und danach weiter in Richtung Westen. An manchen Stellen ist das Ufer des Uzun Göl oder des Cernek Gölu von Hunderten Hufen zu Matsch zertrampelt. Wasserbüffel sind wehrhaftes Vieh, keine Frage. Doch lässt man ihnen den Weg zum Wasser und hält genügend Abstand, trottet die Herde unaufgeregt vorüber, geht in den See. Sie haben Schneisen in das Dornengestrüpp geschlagen, von dort kann man sie gut beobachten. Sie gehören den Landwirten der Umgebung, die aus der Milch Joghurt und Käse herstellen. Im Naturzentrum an der Piste Richtung Bafra gibt es sogar Eis aus der Büffelmilch. Bauer Murat zum Beispiel hat zwölf Wasserbüffel. Eine Kuh war trächtig und hat gerade geworfen. Er zeigt uns den Stall, wo seine Mutter Esme beim Melken ist. Von der Milch wird auch das Kälbchen bekommen, für das Murat frisches Stroh in den Stall trägt. Käse und Joghurt verkauft er an die Geschäfte der Umgebung, für die naturnahe Bewirtschaftung der sensiblen Flächen im Delta bekommt er zudem Zuschüsse vom Staat. Die Wasserbüffel sind keine schlechte Partie für diese Gegend. Zudem sie an die nassen Verhältnisse angepasst sind – und Touristen erfreuen.

Hier am östlichen Rand des Deltas liegen die größten Naturschutzgebiete. Auch in der Türkei sind große Teile des fruchtbaren, ebenen Bodens im Schwemmland für die Landwirtschaft urbar gemacht worden. Doch am Rand des Deltas hat sich das erhalten, was Wissenschaftler als größtes Naturerbe der Schwarzmeerküste in der Türkei bezeichnen. Es ist eine Abwechslung aus Seen und Sümpfen, Lagunen, Dünen und Auwäldern. Schwillt der Kizilirmak an, flutet er die Flächen im Delta. Sie sind mit Kanälen durchzogen, die den Wasserstand auf den landwirtschaftlichen Nutzflächen regeln und für den Abfluss in Schwarze Meer sorgen. Zu unberechenbar für eine dauerhafte menschliche Nutzung ist diese amphibische Welt, deshalb hat sich hier am zweitgrößten Flussdelta im Schwarzen Meer (das größte ist das der Donau) diese bedeutende Naturlandschaft erhalten. Der Mensch treibt nur ein paar Wasserbüffel hinein, die den natürlichen Zusammenhängen nicht schaden, sondern durch das Freihalten von Flächen dem Artenschutz dienlich sind.

Und der Mensch fängt Fische. Über der glitzernden Fläche des Sees tuckert ein kleines Boot gen Norden. Ein Boot! Das ist die Möglichkeit, tiefer ins Delta einzudringen und diese wundersame Gegend zu erkunden. Irgendwo hier müssen die Fischer ihre Anlandestelle haben. Die Seen sind voll von Karpfen und Zander, von Forellen und Äschen. Und auch eine weitere kulinarische Köstlichkeit , kleine Flusskrebse, landet in ihren Netzen. Wir folgen dem Fischer auf der Piste vorbei an Mieten mit geschnittenem Riet, das liegt hier zum Trocknen und wird später zum Dachdecken verwendet. Und wir fahren vorsichtig um die Kurven, um nicht eine Herde Wasserbüffel aufzuscheuchen.

Dann liegt unter einem lichten Wäldchen das Gehöft der lokalen Fischereigenossenschaft. Spatzen lärmen durch die Pappeln, ein paar Autos stehen im Schatten. Und ganz hinten ein alter Bauwagen mit einem Zelt davor. Die Fischer haben Feierabend und sitzen beim Bier, der Grill dampft vor sich hin, und auf dem Tisch liegt ein Karpfen, eingepackt in nasses Zeitungspapier, der kommt nachher in den Ofen. Die Leute schneiden für den Besuch Brot und eine frische Melone an, bitten zum Tee – sie erklären sich bereit, uns noch vor dem Abendessen mit dem Boot ins Delta zu fahren.

Die Holzboote liegen im Schilf, Netze trocknen auf dem Rasen, und wir balancieren zu einem der Kähne. Ali Güven macht das Boot sauber, packt die letzten Fische eine Kiste, füllt etwas Sprit nach. Sein Kumpel holt noch die Reusen aus dem Boot und stellt sie in tieferes Wasser. Er geht mit der Wathose in den See hinaus – tief ist das Wasser nicht, dafür warm wie in der Badewanne und sehr nährstoffreich. Deshalb leben hier so viele Fische, deshalb so viele Vögel. Ali schmeißt den Motor an, und das Boot schnurrt auf den See hinaus. Wir fahren in ein Labyrinth aus Lagunen, durch verborgene Kanäle, über in der Nachmittagsonne gleißende Seen. Plötzlich spritzt und platscht es, wie wild springen kleine Fische aus dem Wasser. Einer landet im Boot, Ismail packt die kleine Äsche und wirft sie wieder über Bord. Das Ufer kommt näher, Reiher fliegen auf, als wir zu nahe kommen. Hier zwischen dem Gebirgsriegel im fernen Süden und dem Ufer des Schwarzen Meeres verlieren, versickern und verdunsten die Fluten des mächtigen Kizilirmak. Sobald wir einer der scheinbar schwimmenden Inseln zu nahe kommen, fliegen die Vogelschwärme kreischend auf.

Ali, der Fischer, kennt die Wege durch diesen Dschungel. Hat er einen Kanal entdeckt, nimmt er Gas weg und steuert er den Kahn vorsichtig hinein. Das Wasser hier draußen ist vollkommen klar und still, und man kann die Wasserpflanzen bis zum Grund hin erkennen; zwei Meter tief ist es schätzungsweise. Es wird noch tiefer, wenn der Kizilirmak die Fluten aus dem Hochland heranbringt und weitere Teile des Deltas überfluten wird. Ali hat einen Platz gefunden und landet das Boot an, sanft knirschend ruckt es auf. Um auf trockenen Grund zu kommen, springen wir von Binse zu Binse, deren Büschel wie Trittsteine im Modder liegen, die Schritte schmatzen im Morast. Oben wippt Distelgebüsch im Wind, und dahinter breitet sich eine trockene Fläche weit nach Osten aus. Auf der Ebene staksen in langsamem Schritt Weißstörche – 40,50, vielleicht noch mehr. Sie sind nichts Ungewöhnliches hier, es gibt sie überall, und mehr als 300 weitere Vogelarten haben Forscher hier gezählt.

Das Delta atmet mit der Zeit, läuft voll und trocknet wieder aus im Laufe der Jahreszeiten. Es ist nicht nur Heimat Tausender Vögel, sondern zur Zeit des Vogelzugs auch Rast- und Rückzugsort von Zigtausenden Enten und Gänsen, überhaupt bedeutsam für Zugvögel aus Europa. Dann, wenn das Wasser wieder höher gestiegen ist, wenn alles wieder überflutet ist. Und dann, wenn Ali hier nur noch mit seinem Boot vorwärtskommt. Wenn alles wieder schwimmt. Ganz in der Ferne sind ein paar Häuser zu erkennen.

Erbaut sind sie auf einem Grund, der ein wenig höher liegt als der Sumpf. Sie scheinen gleichsam über der Szenerie zu schweben, so als gehörten sie nicht hierher. Am Himmel spielen Wolken und Sonne ihr ewiges Spiel; Schatten jagen vorüber und tauchen die Inseln in mysteriöses Dunkel, dann wieder leuchten die Pools im Lichtfinger der Sonne magisch auf. Frösche quaken, und Grillen zirpen in rhythmischem Puls. Und immer wieder lässt der Wind das Riet sachte zittern und rascheln. Störche, Marsch und Warften – es sieht aus wie an der Nordsee.

Vorn am Meer die von der Brandung aufgeworfenen Nehrungen und Strandwälle, dahinter scheinbar undurchdringliche Marschen und Sümpfe, unterworfen den Wasserständen von Meer und Fluss, dem Regime der Natur, immer wieder vollgelaufen. Und in weiten Teilen unbesiedelt. Es ist ein ewiges Hin und Her im Rhythmus der Zeit; Werden und Vergehen. Dieser ständige Wechsel schafft permanent neue Bedingungen und macht den Lebensraum so vielfältig und reich. Ein Teil des Deltas steht deshalb unter internationalem Schutz und ist Ramsar-Gebiet, gehört zu den wichtigsten Feuchtgebieten der Welt. Die Heimat von Kormoranen und Kranichen; Wassermarder und Wildkatze schleichen umher.

Daran, dass wir uns doch nicht an der Nordsee befinden, erinnern die Ibisse und Pelikane – und die Büffel. Es riecht hier salzig nach dem nahen Meer, nach tropischem Morast, und es riecht wieder nach Kuhdung. Hören tut man allenfalls ihr Schnaufen – und dann, wenn sie sich gemächlich durchs Gebüsch bewegen. Wo genau sie sind, das riecht man zuerst. Es ist Abend geworden, und Licht und Luft sind so sanft wie diese Tiere. Irgendwo schreit ein Vogel, irgendwo platscht etwas ins Wasser – vielleicht ein Eisvogel, bunt wie ein fliegender Edelstein stürzt er sich beim Fang seiner Beute ins Nass. Kurz vor Sonnenuntergang vermengen sich Flut und Firmament zu einer Sinfonie in Blau. Der See liegt in völliger Stille, und Wolken spiegeln sich zart auf der Oberfläche. Die Büffel marschieren hinein und stehen scharf wie ein Scherenschnitt vor dem Licht der untergehenden Sonne. Gemessenen Schrittes gehen sie in die beginnende Nacht. Jetzt sind sie im Delta des Kizilirmak wieder unter sich – die Büffel und die Vögel. In einer wundersamen Zwischenwelt.