Die Kapitale des Piemont liegt nicht am Weg – dorthin muss man fahren wollen. Zum Beispiel, um eines der bedeutenden Museen oder die vielen antiken Cafés zu besuchen

Es ist Sonntagvormittag. Die Rollläden der meisten Geschäfte in den Galerien sind geschlossen. Nur vor dem altehrwürdigen Caffè Baratti & Milano an der Piazza Castello herrscht eine ungewöhnliche Konfusion. Verdutzt bahnen sich die Gäste durch Scheinwerfer und Foto-Utensilien den Weg zur Theke. Der verführerische Duft von Kaffee und heißer Schokolade dringt bis nach draußen. Dann betritt plötzlich ein Model mit tizianrotem Pferdeschwanz und weißem Pudel an der Leine das Szenarium. „Un servizio fotografico“, ein Fotoshooting für eine Markenfirma, erklärt ein Ober gelassen einer alten Dame. Für ihn offensichtlich nichts Neues.

Die Kaffee-Spezialität Bicerin ist für Besucher der Stadt Turin ein Muss

In keiner anderen italienischen Stadt gibt es so viele historische Kaffeehäuser wie in der Kapitale des Piemont. Als Anfang 1800 der Klerus in Rom die schwarze Bohne noch als Werk des Teufels verdammte, soll es in der Stadt am Po bereits an die 90 Cafés gegeben haben, in denen nicht nur uneingeschränkt der Kaffeegeist herrschte, sondern auch eine national-liberale Aufbruchstimmung. Zur Zeit des Risorgimento, der politischen Einigung Italiens, wurde das 1822 gegründete Intellektuellen-Café San Carlo, das als erstes Lokal in Italien die Gasbeleuchtung einführte, deshalb mehrmals geschlossen. Man witterte politischen Aufruhr von unerwünschtem Ausmaß. Zu den illustren Gästen gehörte damals auch Alexandre Dumas, der hier seinen ersten Bicerin probierte und begeistert an einen Freund schrieb: „Unter den angenehmen Dingen, die ich in Turin erlebt habe, werde ich nie den Bicerin vergessen, ein exzellentes Getränk aus Kaffee, Milch und Schokolade, das es in vielen Cafés zu einem relativ niedrigen Preis gibt.“ Das dickflüssige, dunkelbraune Meisterwerk mit Sahnehäubchen, rigoros im Glas serviert, ist nicht mehr allemal preisgünstig, aber für jeden Besucher noch immer ein Muss – für Turiner oft ein Grund, vor oder nach einer Shoppingtour auf einen Smalltalk einzukehren. Wobei Café und Café durchaus nicht das Gleiche ist. Ausschlaggebend sind das Flair und die jeweiligen Spezialitäten. Wer unter den berühmten Namen wo und wann der genüsslichen Lebensart frönte, erfährt der Gast spätestens bei einem Blick in die kostspielig aufgemachten Broschüren der Kaffeehäuser, in denen die eigene glorreiche Lokal-Geschichte samt Anekdoten aufgezeigt wird.

In den heiligen Hallen des Del Cambio an der Piazza Carignano, Turins bekanntem Gourmet-Tempel, ist der Tisch, an dem einst der berühmte Staatsmann Graf von Cavour speiste, bedeutungsvoll mit einem Messingschild gekennzeichnet. Heute laden hier unter den schweren Kristalllüstern Manager und Bankdirektoren wichtige Besucher zu Risotto mit weißen Trüffeln und edlen heimischen Rebsorten wie Barolo, Barbera oder Nebbiolo ein. Turin drängt sich dem Fremden nicht mit eklatanten Reizen auf. Dabei hat die heute 920.000 Einwohner zählende, von den Römern angelegte und von den Savoyern zur Barockstadt ausgebaute Metropole entschieden mehr zu bieten als Autofabriken, Juventus und gesichtslose Wohnsilos – wie oft und gern behauptet wird. Das Bild der vom Po geteilten Stadt bestimmen großzügig angelegte Plätze, breite Straßen und Paläste, die eher an Paris als an Florenz oder Rom erinnern. Dazu kilometerlange Arkadengänge, unter denen man auch bei Regen ohne Schirm stundenlang spazieren gehen oder in den Schaufenstern alle Luxuslabels dieser Welt bestaunen kann. Vier Jahre, bis 1865, war Turin – als Wegbereiterin der Einigung Italiens – die stolze Hauptstadt des Königreiches Italien. 1899 gründete die Familie Agnelli die Fiat-Werke und schenkte der Stadt ein Jahrhundert lang Arbeit und beachtlichen Wohlstand. Tausende von Süditalienern emigrierten damals in das Piemont.

Auch Biagio ist kein waschechter Turiner, doch darauf kommt es für ihn nicht an. Der 28-Jährige, Sohn einer immigrierten kalabresischen Familie in der dritten Generation, hat der familiären Berufstradition abgesagt und widmet sich mit Haut und Haaren seinem Traumjob als Barkeeper in einem Hotel. Stolz zeigt er die Getränkekarte mit eigenen Cocktailrezepten. Biagio träumt davon, eines Tages vielleicht eine eigene stilvolle Bar aufzumachen. Am liebsten natürlich in den Murazzi, den ehemaligen Lagerräumen entlang der Kaimauern am Westufer des Po, wo sich heute das Nachtleben mit Diskotheken und angesagten Lokalen abspielt. „Getränke mixen und dem modernen Zeitgeschmack anpassen“, sagt er, „fühlt sich hier anders an als in jeder anderen italienischen Stadt!“

In Turin haben Cocktails und Aperitifs Tradition. 1786 mixte Benedetto Antonio Carpano laut Chronik zum ersten Mal trockenen Weißwein mit aromatischen Kräutern und hob damit den Wermut aus der Taufe. Die Idee machte Schule. Bald ersannen die Cinzano-Brüder und darauf Martini neue Mixturen, die in alle Welt exportiert wurden. 1925 führte das Caffè Mulassano an der Piazza Castello als damals absolute Neuheit die „tramezzini“ – dreieckige, unterschiedlich gefüllte Weißbrotscheiben – ein. Sie wurden im Handumdrehen zum Erfolgsschlager. So entwickelte sich eine Art „cocktail-life“ – ein Ritual, das noch immer ausgiebig praktiziert wird.

Auch Friedrich Nietzsche war ein Fan der Turiner Kaffeehauskultur

„Turin hat schon immer anders getickt“, umreißt Claudia kurz und bündig ihre Heimatstadt. Sechs Stunden täglich begleitet sie Touristen in einem gläsernen Fahrstuhl zur Aussichtsterrasse der 167 Meter hohen Mole Antonelliana – dem Wahrzeichen Turins, mit fantastischem Blick über die Dächer der Metropole. „Ursprünglich war der Turm als Synagoge gedacht, doch der Bauauftrag wurde 1866 annulliert.“ Heute sitzt hier das Museo Nazionale del Cinema, das neben Filmkameras und Kulissen aus der Pionierzeit rund 12.000 Filme und 300.000 Plakate zeigt.

Nur ein paar Querstraßen weiter wartet das Museo Egizio, das Ägyptische Museum, mit dem Reich der Pharaonen auf. Das weltweit älteste und nach Kairo wichtigste Museum ägyptischer Altertümer hat über 30.000 Ausstellungsstücke zu bieten – mit der berühmten Statue Ramses’ II. aus schwarzem Dioritgestein als Prunkstück. Gleich um die Ecke hatte Friedrich Nietzsche 1888 in einem ruhmreichen Palazzo mit Blick auf die Piazza Carignano Unterkunft gefunden. Der Philosoph war Stammgast im Caffè Florio, bekannt für sein köstliches Eis. Er lobte die Stadt in höchsten Tönen und notierte: „Ein wahrer Glücksfall, dies Turin. Was für ernste und feierliche Plätze, die schönsten Cafés, die ich je sah.“