In der Provence am Ufer der Ardèche bauen Idealisten das uralte Dorf Viel Audon wieder auf und versuchen sich als Selbstversorger

Ein Turm aus Steinen begrüßt die Besucher nach 20 Minuten Kraxeln über spitzen Kalksand: Ganz weich wirken sie, so samtig, dass wir sie am liebsten streicheln würden. Das Wasser der Ardèche hat die Steine so rund gewaschen. Der Fluss ist auch der Grund dafür, weshalb hier unten, am Fuß des Felsens, ein Dorf liegt. Ein Dorf, zu dem keine Straße führt. Mitten im Trubel der französischen Provence.

Unsere T-Shirts kleben am Rücken unter dem Rucksack, als wir die Holzbalken mit den reingeritzten Worten entdecken: „Bienvenue au Viel Audon“, willkommen in Viel Audon. Wir haben es gefunden. Und machen gleich Platz: jungen Frauen und Männern in kurzen Hosen und derben Schuhen, die Schutt und Geröll auf Schubkarren die steinernen Treppen hinaufhieven – über daraufgelegte Bretter.

Viel Audon, das Nest an einem Ende der Welt, wächst und entwickelt sich. Leben hat es hier immer gegeben, auch menschliches: Erst in Höhlen, später in Hütten haben die Menschen das moderate Klima zu schätzen gewusst, das Wasser der Quelle, die Fische des Flusses, die reiche Flora und Fauna. Acht Familien sind aus dem 18. Jahrhundert überliefert. Erst die Industrialisierung und die Seidenraupenzucht des 19. Jahrhunderts haben die Uferbewohner auf die Höhe des Plateaus über ihnen getrieben. Wir drücken uns an die Steinwand, vorbei an der Menschen-Karren-Schlange, ein Stück weiter ins Dorf. Spähen durch ein Fenster, klopfen an die Tür und lernen Jean kennen, der gerade in der Küche steht und getrocknete Tomaten in kleine Gläser mit Öl einlegt. Ein wenig überrascht ist der junge Mann mit dem dunklen Bart und der hellen Stimme zwar über die unangekündigte Gesprächseinladung, doch er nimmt sie gern an. Wischt sich die Hände an der Schürze ab und setzt sich für einen Moment bei einem Glas Wasser mit Minzsirup zur Pause in den Schatten.

Vor drei Jahren hat sich Jean entschieden, nicht länger das zu tun, was er bis dahin für ein paar Jahre getan hat: Ingenieurwissenschaften zu studieren. „Dies hier ist ein Ort, an dem man viel lernen und anderen beibringen kann. Das funktioniert wie eine Kette“, erzählt er. Als der damalige Student selbst für den Sommer als Volunteer nach Viel Audon kam, hat er Menschen getroffen, die ihn zum Nachdenken gebracht haben: darüber, was er wirklich machen, was er wirklich lernen will.

Jean ist 28 Jahre alt und arbeitet auf den selbst angelegten Terrassengärten des Dorfes. Er baut Kräuter an, trocknet sie und füllt sie als Gewürzmischungen in schmale Gläser ab. Er zieht Tomaten und Oliven.

Oliven, die nicht aussehen wie die Oliven, die wir kennen. Die keine fest definierte Farbe – Grün oder Schwarz – haben, sondern einen Erdton dazwischen. Die mit kleinen Punkten besprenkelt und runzlig sind. Und so stark nach Oliven schmecken, als hätte jemand eine Handvoll Supermarkt-Oliven zu einer einzigen konzentriert. „Wie lange ich hier bleibe, weiß ich noch nicht“, sagt Jean, der ehemalige Student aus der Stadt.

Odile, 18 Jahre alt, weiß es. Sie ist das, was Jean zum ersten Mal vor acht Jahren war: ein Volunteer, ein freiwilliger Helfer. Einer von denen, die gerade die Schubkarren die Treppen hochhieven. Odile setzt sich einen Moment zu uns. Sie hat eine deutsche Mutter und einen französischen Vater, studiert Kunst in Paris.

„Ich bin zum zweiten Mal hier“, erzählt das Mädchen, dessen braune Locken sich auf seinen Schultern kräuseln. „Wir bilden jeden Morgen Teams: Die einen kochen, die anderen backen Brot, die nächsten Steine. Wir fertigen Backsteine aus Erde, Stroh und Sand oder zerschlagen große Steine vom Fluss.“ Auch Zement stellen die Aussteiger auf Zeit selbst her und bauen daraus ein Haus: ein festes Dach für die Freiwilligen, damit sie Unterschlupf finden, wenn es regnet oder kalt wird.

Etwa 50 Helfer sind zurzeit vor Ort. Insgesamt packten schon insgesamt mehr als 10.000 Menschen seit den 60er-Jahren mit an beim Wiederaufbau des uralten Dorfes, das eine Handvoll Idealisten wiederentdeckt hat. Sie haben Genossenschaften gegründet, Steinhäuser repariert, einen Briefkasten oben am letzten Parkplatz vor dem Kraxelpfad installiert, für fließendes Wasser gesorgt und später für WLAN. Etwa ein Dutzend Frauen und Männer, die meisten zwischen 25 und 35 Jahren alt, leben in Viel Audon.

Alle arbeiten für die dorfeigenen Produkte: Sirup, Ziegenkäse, Gewürze, Oliven. Die verkaufen sie im eigenen Laden an Besucher, die sie in Rucksäcken zurück zum Auto schleppen. Doch selbst für Idealisten wäre das als Einkommen allein doch arg zu schmal – daher bieten die Bewohner ihre Sachen auch auf den Märkten der Region an, zum Beispiel in Aubenas.

Autark ist Viel Audon trotz allem nicht: Zweimal pro Woche stapft ein Team den felsigen Weg zum Parkplatz hinauf, um mit dem Genossenschaftsauto zum Großeinkauf nach Balazuc zu fahren. Das liegt schräg gegenüber an die Kalksteinfelsen der Ardèche geworfen – in großen Teilen noch genauso, wie die Menschen im Mittelalter die Steine für ihre Häuser aufgeschichtet haben. Durch die Gassen der vieille Ville, der Altstadt, geht es nur zu Fuß, wir lassen selbst die Räder lieber stehen, halten an und inne. Genau wie Vogüé ein paar Kilometer nördlich trägt Balazuc den Titel „village de caractère“, die Dörfer zählen zu den schönsten Dörfern Frankreichs. Wer von Hunderte Jahre alten Dörfern aus Kalksandstein nicht genug bekommen kann, macht einen Ausflug von der Ardèche an die Beaume. Labeaume mit seinem flachen Familienstrand lohnt die kurze Fahrt, zumal der Abstecher mit der spektakulärsten Straße der Gegend zu verknüpfen ist: Ende des 19. Jahrhunderts in die Felswand gehauen, bietet die D4 wahnsinnige Blicke durch den geöffneten Felstunnel auf die Ardèche. Autofahrer, die den Schleifen des Flusses weiter in Richtung Autoroute du Soleil nach Marseille folgen und vor dem mächtigen Felsentor Pont d`Arc von der D4 auf die D290 abbiegen, werden wohl lächeln über die kurze D4: Ihre große Schwester D290 kämpft sich auf ganzer Länge an die Schluchten, die Gorges de l’Ardèche. Wer Serpentinen liebt, wird hier juchzen vor Glück.