Warschau boomt und brummt vor Lebenslust. Ein Bummel durch die polnische Metropole mit zwei erfolgreichen Neubürgern aus Hamburg

Wo schlägt das Herz dieser Stadt, wo trifft man sich, wenn man das erste Mal zu einem Bummel durch die polnische Metropole aufbrechen will? An der Sirene auf dem Altmarkt, dieser legendären Figur, die für vielfache Zerstörung, vor allem aber für Hoffnung und Wiederaufbau steht ? An der barocken Sigismundsäule vor dem Schloss, die an den König erinnert, der Warschau vor über 400 Jahren zur Hauptstadt gemacht hat? An einer der vielen Gedenkstätten, die an das unfassbare Leid ihrer Bewohner erinnern, an den Warschauer Aufstand, an die Helden im Getto? Florian und Kasia Habeck, unsere Warschauer Freunde, haben den Pilsudski-Platz, vor dem Denkmal des Unbekannten Soldaten, vorgeschlagen. Es ist allen Opfern des Zweiten Weltkriegs gewidmet und liegt sowohl gegenüber dem traditionsreichen Hotel Victoria als auch dem spektakulären Metropolitan-Gebäude des Stararchitekten Norman Foster.

Ein idealer Treffpunkt. Denn das gesamte Ensemble, zu dem auch das Nationaltheater und die Sächsischen Gärten hinter dem Ehrenmal gehören, angelegt nach der Krönung August des Starken zum polnischen König, spiegelt so viel Geschichte, so viel Symbolik, dass wir sofort mittendrin sind: in der Stadt, ihrer Vergangenheit, ihren Kontrasten. „Eine seltsame Stadt, voller Unordnung, aber auch voller Stolz und voller Widersprüche“, hat Agnieszka Grochowska sie genannt, die derzeit wohl populärste polnische Schauspielerin („Darkness“), die 1979 in Warschau geboren wurde. „Geheimnisvoll ist Warschau, schön und stolz …“, auch das hat sie über ihre Heimatstadt gesagt. Genau so habe ich es empfunden. Drei Tage habe ich mich durch den städtebaulichen Wirrwarr treiben lassen, durch die neue Altstadt, die nach der totalen Zerstörung liebevoll wieder aufgebaut wurde, auf dem Królewski-Boulevard, dem alten Königsweg, vorbei an ehemaligen Adelspalästen, am Uni-Campus, an Nobelhotels, so glanzvoll wie zuletzt wohl vor 80 oder 90 Jahren.

In Saska Kepa, dem jüngsten In-Viertel des Vorortes Praga auf der östlichen Seite der Weichsel, haben wir flirrendes Leben genossen, die hippen Bars, Multikulti-Restaurants, die Boutiquen, eine Szene, die an die Gegend um den Hamburger Mühlenkamp erinnert. Gediegene Neubauviertel wie Mokotów, wo die Habecks wohnen, gehen über in Straßen aus der Zeit des Sozialistischen Realismus.

Und nicht weit entfernt das idyllische Altstadt-Gewirr, Lieblingsrevier der Touristen, das sie gern aus dem Fiaker heraus fotografieren. Weiter im Norden liegen die einstigen jüdischen Wohnviertel, dort waren auch das Getto und der „Umschlagplatz“, von dem die Transporte in die Vernichtungslager abgingen; er hat seinen schrecklichen deutschen Namen behalten. Ein paar Schritte entfernt: das neue gläserne Museum der polnischen Juden – eine Stadt mit einer solchen Vergangenheit kann keine „schöne“ Stadt im herkömmlichen Sinne sein.

Wir waren deshalb auch gewarnt worden: „Du wirst dich nicht sofort verlieben in diese Stadt, du musst dich ihr langsam nähern …“, hatte Florian geschrieben. Florian Habeck ist Hamburger und lebt mit seiner polnischen Frau Kasia schon lange in Warschau. Die beiden haben sich aber nicht etwa an der Weichsel kennengelernt, an deren Ufern sie gern flanieren, sondern in Hamburg-Poppenbüttel, am Carl-von Ossietzky-Gymnasium, wo sie das Abitur gemacht haben.

Heute arbeitet Florian Habeck als erfolgreicher Architekt in Polen, baut für ECE Einkaufszentren überall im Lande. Warschau boomt und Shoppingmalls sind beliebt. Auch Kasia ist von Haus aus Architektin. Natürlich ist beider Blick auf die Stadt durch ihren Beruf geprägt: „Es war Liebe auf den zweiten Blick,“ sagt Florian, „die Stadt wirkt chaotisch, aber eben auch spannend.“ So ist es: Hier die Karmeliterkirche am Trakt Królewski, der Königsroute, ein Gotteshaus, das wie aus Italien versetzt wirkt und tatsächlich nach 250 Jahre alten Bildern von Canaletto wieder aufgebaut wurde, weil es keine Bauzeichnungen mehr gab. An anderer Stelle, etwa am Konstitutionsplatz: Häuser aus kommunistischer Zeit, die wie früher in der Ostberliner Stalinallee aussehen, nur nicht ganz so muffig. Zwei Trambahn-Stationen weiter südlich, rund um einen Platz mit dem schwierigen Namen Zbawiciela, hängt Jung-Warschau in Kneipen mit alternativem Flair ab, eine Regenbogen-Girlande spannt sich über die Straße, ein Hauch von Schanze weht durchs Viertel. Und, auch nicht untypisch für den zeitgeistigen Wandel durch Annäherung: Die Ferrari-Vertretung hat sich im ehemaligen Büro der kommunistischen Arbeiterpartei breitgemacht.

Nur die Weichsel spielt im neuen Warschau, so scheint es, noch keine tragende Rolle; die Stadt wirkt, als wende sie sich ab vom breiten Fluss. Das wiederum führt zu Insider-Tipps von Leuten wie Florian und Kasia. Die nämlich mögen die Wege und Plätze an beiden Ufern, gerade weil es dort so still ist. Ziellos und gemeinsam waren wir lange durchs Altstadt-Labyrinth gebummelt; plötzlich stehen wir auf „ihrem“ Balkon hoch über dem Strom, einem Lieblingsort der beiden Architekten. Von hier aus können sie die Kirche sehen, in der sie 1999 geheiratet haben.

Warschau, mit 1,7 Millionen Einwohnern so groß wie Florians Heimatstadt Hamburg, steht nicht auf den ersten Rängen im europäischen Städtetourismus. Die Vergangenheit ist bitter, und an vielen Orten sind die Narben und die Mahnungen gegenwärtig. Aber die pralle Lebensfreude von heute kann es mit jeder anderen Metropole in Mitteleuropa aufnehmen. Das Kulturleben ist so bunt wie die kulinarische Landschaft: Die Jazzszene, vor Jahren etwas abgehängt, startet gerade wieder durch, die großen Theater und die Off-Bühnen haben Weltstadtformat, die Filmfestivals und Chopin-Wettbewerbe ziehen hochkarätige Künstler an.

Und auch die Gastronomie bietet eine Vielfalt, wie sie vor 20 Jahren keiner für möglich gehalten hätte: Von feiner Hochküche, polnisch-französisch wie in alten Zeiten, über die wiederentdeckten jüdischen Spezialitäten bis hin zu Klassikern wie Borschtsch, der deftigen Rote-Bete-Suppe, und Piroggen, den beliebten Teigtaschen, sind einheimische Genießer und Gäste aus aller Welt auf den Gourmetpisten dieser Stadt unterwegs.

Letzter Nachmittag. Hinter dem Jüdischen Museum versteckt sich ein kleines Relief, das Willy Brandt bei seinem Kniefall im Dezember 1970 am Mahnmal für die Opfer des Gettos zeigt. Eine sehr alte Dame sitzt auf einer Bank davor. Sie lächelt mir zu, bedankt sich in altmodischem Deutsch, dass ich diesen Ort gefunden habe: „Viele Leute kommen nicht hierher. Es ist eine neue Zeit, es geht uns gut. So möchte es bleiben für immer!“