Die Florida Keys im Süden der USA bieten heute vor allem Spaß und Party total. Trotzdem scheint die Zeit auf den Inseln stehen geblieben

Wie spät ist es? Welchen Tag haben wir heute? Ist eigentlich unwichtig. Es war wohl doch ein Mojito zu viel gewesen, gestern Nacht auf der Duval Street. Vermutlich waren es sogar zwei. Aber es gab ja auch so viel zu erzählen, vor allem über die neue Freundin, die Bella heißt und eine richtig tolle, glatte Haut hat, so wie ein Gummistiefel, und die so wahnsinnig zärtlich küssen kann.

Jedenfalls dann, wenn man bereit ist, 195 Dollar zu bezahlen, um eine Viertelstunde lang mit einem Delfinweibchen im Meerwasserbecken zu schwimmen, gleich anschließend rauszufahren aufs Meer, sich beim „Snorkling“ (für 45 Dollar) an einem der vorgelagerten Riffs Stachelrochen anzusehen und mit etwas Glück vielleicht einem Barrakuda zu begegnen.

Wer im Blue Heaven das berühmte Frühstück ergattern will, muss sich jetzt einen Ruck geben. Denn die Tische im schattigen Innenhof des Lokals sind begehrt. Die Karenzzeit einer Reservierung beträgt gerade mal fünf Minuten, dann ist der Tisch unwiederbringlich verloren. Hühner laufen und flattern herum (überall in den Straßen von Key West laufen und flattern Hühner herum, denn ein strenges Gesetz zum bedingungslosen Erhalt der Vogelwelt garantiert dem Federvieh mehr Bürgerrechte als so manchem Zweibeiner), das Garten-Mobiliar ist grob zusammengewürfelt, aber die Bedienungen sind superfreundlich. Die meisten der anwesenden Gäste haben morgens noch ganz kleine Augen. Und so wird der Kaffee in Überschallgeschwindigkeit serviert. Richtig guter Kaffee, garantiert aus biologischem Anbau, „organic und natural“, nicht die gefürchtete amerikanische Plörre. Dazu gibt es das „Special of the Day“: Eggs Benedict, pochierte Eier mit Hummerschwanz und (!) knusprigem Speck auf einem Bagel, überbacken mit Béchamelsauce. Runtergespült wird mit frisch gepresstem Orangensaft, und schon bekommt das Leben wieder einen Sinn. Dafür sind rund 30 Dollar zwar ziemlich viel, aber nicht zu viel, und Key West ist schließlich nicht Warnemünde.

Bestimmt sind die Keys ein Reservat. Eine sorgsam gehütete, liberale Schutzzone für Party People, Alt-Hippies, Freaks, Kreative, Wassersportler, Sonnenanbeter und Umweltaktivisten. Sie sind eine Gruppe von Inseln, die wie an einer Perlenschnur aufgezogen, umgeben von kristallblauem Wasser, mit dem doch eher reaktionären Festland (und untereinander) durch den vierspurigen Overseas Highway verbunden sind. Die Autobahn endet sozusagen in einer Sackgasse, im Planquadrat namens Key West. Nach diesem „am meisten südlich gelegenen Punkt“ („Southernmost Point“) der USA, kommt das Meer. Und dann kommt 90 Meilen weiter südlich auch schon der Klassenfeind Kuba. Kaum zu glauben, dass dieser Außenposten vor nur 130 Jahren bereits 28.000 Einwohner zählte, die heutige Millionenmetropole Miami gerade mal 500, und dass Key West damals die reichste aller amerikanischen Städte war. Jetzt ist sie immer noch eines der beliebtesten Reiseziele innerhalb der USA.

Angefangen hatte es mit den Schönen und Reichen, die hier Urlaub machten. Nicht zuletzt genossen aber auch viele berühmte Künstler und Schriftsteller die jährliche Durchschnittstemperatur von 26 Grad, von denen Ernest Hemingway sicherlich der berühmteste war. Noch immer nennen sie ihn hier zärtlich „Papa“, und einmal im Jahr veranstalten sie in seiner Lieblingsbar, dem Sloppy Joe’s, einen Look-Alike-Wettbewerb, der es längst in die Hauptnachrichten von CNN geschafft hat. „Papa liebte dieses Flair aus Piraterie und Schmuggel, amerikanischer Bürgerkriegsgeschichte, der Kuba-Krise, viktorianischen Villen und karibischen Sandstränden: All das inspirierte ihn“, sagt Dave Gonzales, Direktor der Hemingway-Gesellschaft. Der Literaturwissenschaftler führt seit einem Vierteljahrhundert Besucher durch die prächtige, grün gestrichene Villa des Schriftstellers an der Whitehead Street. Hier schrieb Hemingway unter anderem die Novelle „Der alte Mann und das Meer“, für die er den Literatur-Nobelpreis erhielt. Dave, der ein schlabberiges T-Shirt und Flip-Flops trägt, könnte viele spannende Geschichten über Hemingways literarisches Werk erzählen, seine Schreibtechniken und nicht zuletzt auch sein zerrissenes Seelenleben (das ihn letztlich am 2. Juli 1961 in Idaho in den Selbstmord trieb). Aber Dave weiß andererseits ganz genau, dass sich Touristen vor allem für die Skurrilitäten des großen Erzählers interessieren: seinen Katzenfriedhof mitten auf dem schattigen Grundstück, zum Beispiel. Oder für seinen dokumentierten Irrsinn, 20.000 Dollar für einen Swimmingpool im Garten auszugeben, was für die damalige Zeit ein Vermögen war. Das ganze Anwesen mit Haus hatte ihn übrigens nur 8000 Dollar gekostet.

Trotzdem trieb es ihn, den passionierten Hochseeangler, immer wieder hinaus. Hinaus aufs Meer. An Steuerbord der Golf von Mexiko, an Backbord der Atlantik. Beide Meere sind fast unverschämt warm und überaus fischreich.

Deshalb sind die Keys – allen voran Key West – für alle nur erdenklichen Arten und Abarten des Wassersports wirklich nur eins: absolut perfekt.

Vermutlich herrscht hier auch deswegen die größte Motorbootdichte weltweit, die Freizeitskipper zeigen gerne, was sie haben, doch wird eigentlich erst ab einem 500-PS-Außenborder aufwärts länger hingeschaut. „‚Boat‘ ist nichts anderes als die Abkürzung von ‚break out another thousand‘ (‚Hol noch einen Tausender mehr aus der Tasche‘)“, scherzt John O’Connolly, der zusammen mit seiner Mutter etwa 30 Meilen nördlich auf der beschaulichen Insel Big Pine eine kleine Marina nebst Tankstelle betreibt. 500 Gallonen Sprit, etwa 2000 Liter oder eben rund 2000 Dollar, verballert ein durchschnittliches Boot an einem Wochenende.

Nach einem aufregenden Paragliding-Trip in 100 Meter Höhe über dem Wasser (für 40 Dollar pro Person) empfiehlt John eine ruhige, Paddeltour mit dem Kanu. Drei Stunden lang geht es unter der sengenden, beinahe karibischen Sonne dicht unter der Küstenlinie an endlosen Mangrovenwäldern entlang, in deren dichtem Wurzelwerk sich die Kinderstube für allerlei Meeresgetier befindet (dessen Eltern sich spätestens beim abendlichen Dinner im Restaurant auf dem Teller einfinden werden). Der Paddel-Guide heißt Jim und ist bestimmt einer der Nachkommen des Woodstock-Festivals von 1969, ein sehniger, braun gebrannter Naturbursche mit langen Haaren und Fünf-Tage-Bart, der sich nach dem halbstündigen Einweisungskurs „Paddeln für absolute Anfänger“ als engagierter Umweltschützer entpuppt. Jim weiß alles über die Mangroven und ihre Bedeutung für den Küstenschutz, die Tierwelt, die Umwelt. „Natural“ ist sein Lieblingswort, und er lächelt milde, wenn man ihn auf die Diskrepanz anspricht, dass an den Pools sowie in den unzähligen Bars, Pubs und Restaurants von Key West die hochprozentigen Getränke fast ausschließlich in Plastik- oder Pappbechern ausgeschenkt werden. „Well“, sagt er schließlich, beinahe hilflos, „this is America.“

Aber die Keys sind auch bei oberflächlicher Betrachtung eben nicht nur Amerika. Selbst über der „Sunset Celebration“ am Mallory Square, dem allabendlichen Höhepunkt eines Besuchs von Key West, wenn Gaukler und Straßenmusikanten den eindrucksvollen Sonnenuntergang feiern, schwebt eine Dunstwolke aus Entspannung, Gelassenheit und Frieden. Fast jeder hat einen Drink in der Hand, bevor es zum Essen und danach auf die Partytour geht. Doch jetzt, hier auf der Uferpromenade, scheinen sogar die Pelikane in der milden Abendluft zu dösen, und nur ein paar Nebenstraßen abseits des lichterglänzenden Trubels stehen die romantischen viktorianischen Holzhäuser mit ihren überdimensionierten Veranden, auf denen es sich formidabel in Hängematten schaukeln lässt. Es gibt Bougainville-gesäumte Hinterhöfe, prächtige Kleinst-Paradiese, bewachsen mit Kokospalmen, Ylang-Ylang und Jacaranda, in denen bunte Vögel hin und her flattern. Die dazugehörigen Menschen bewegen sich wie in Zeitlupe. Nicht zuletzt nennen sie sich deshalb „Conchs“ (sprich „Konks“); nach einer hiesigen Seeschneckenart, einer Spezialität, die man in allen nur erdenklichen Aggregatzuständen essen kann, von roh über gekocht bis frittiert. Und fragt man die Conchs, dann antworten sie, sie seien im Paradies. Hemingway sah das bestimmt genauso.