Wenn die Kreuzfahrtschiffe zum Saisonwechsel einen neuen Heimathafen anlaufen, ist das eine reine Betriebsfahrt – eigentlich. Inzwischen kann man bei diesen Reposition-Touren preiswert an Bord gehen und besondere Reisen genießen

Noch immer passiert nichts, und schon eine Minute Verspätung. Die Uhr am Kai zeigt Sechzehnnulleins. Dann springt sie eine Minute vor. Sechzehnnullzwei. Und plötzlich spüren die Fußsohlen ein ganz leises Zittern – äußerst gemäßigt hier oben auf Deck 16, wo man zumindest gefühlt dem Himmel näher als dem Boden ist. Dann schaut man hinunter: Das Wasser wühlt sich schäumend auf, der Spalt zwischen der ziemlich weißen Schiffswand und dem Kai wird zeitlupenhaft größer, zwei Meter, drei, fünf, zehn. Die „Eclipse“ hat abgelegt, goodbye Southampton, auf Wiedersehen, Europa.

Nichts ist los da unten. Niemand wirft Luftschlangen von Bord. Keine schöne Zurückgelassene mit tränenerfüllten Augen umklammert verzweifelt jene endlosen Seidenbänder zum Liebsten an der Reling der dritten Klasse, die einst gang und gäbe waren, wenn ein Dampfer auf große Fahrt ging und der Abschied wie ein Messer ins Herz fuhr.

Damals, genauer: vor 101 Jahren, als von dieser Stelle die „Titanic“ zur Erstreise nach New York ablegte, standen am Kai gar Zigtausende Shipspotter, die das einmalige Schauspiel keinesfalls verpassen wollten, atemlos vor Begeisterung. Von oben regnete es Konfetti und Luftschlangen, und fast hätte die „Titanic“ hier im Hafen die erste Kollision ihrer unrühmlichen Geschichte erlebt. Durch den Sog der „Titanic“-Schrauben hatte sich der Oceanliner „New York“ von den Pollern losgerissen, trieb führerlos dem nagelneuen Prachtschiff entgegen und hätte es beinahe schon hier in den Southampton Waters versenkt. Wer weiß, wozu das gut gewesen wäre.

Nichts von alledem an diesem Herbsttag. Kein Mensch, nicht einer, winkt der auslaufenden „Eclipse“ nach. Und als Kapitän Dimitrios Manetas zum Abschied dreimal das gewaltige Nebelhorn röhren lässt, antwortet nicht mal der Laster, der das letzte Gepäck zum Schiff brachte. Dabei ist dies ein sehr langer Abschied, nicht die üblichen14 Tage Kreuzfahrt, sondern sechs Monate wird es dauern, bis die „Eclipse“ nach Southampton zurückkehrt. Das Schiff wird in die USA verlegt, wo es während des europäischen Winters auf Karibik-Törns geht.

„Repositioning“ ist das Fachwort unter Seefahrern, und es bedeutet zweierlei. Ein Schiff wechselt den Heimathafen, bezieht neue Position. Und, aus Sicht der Passagiere wichtiger: Man kann die Reposition-Touren buchen und mitfahren. Das war nicht immer so. Vor ein paar Jahren wurden Schiffe zwar auch schon am Saisonende von hier nach dort verlegt, die Überführungsfahrt aber war ein reiner Arbeitstrip. An Bord wurde acht Tage lang auf Hochtouren renoviert, Passagiere hätten da nur gestört. Dann nahmen die ersten Dampfer eine Handvoll Passagiere auf die Reposition-Fahrt mit, die Nachfrage stieg sprunghaft, schon deshalb, weil sich herumsprach, dass die Cruises spottbillig und zudem von einem Hauch Abenteuer umlagert waren. Und damit wurde die Sache zu einem soliden Geschäft. Heute machen alle großen Reederei-Konzerne mehr oder weniger viele Repo-Reisen, einer aber überhaupt keine: Disney. Und Vorsicht: In den großen Hochglanzprospekten der Reedereien sind Reposition-Touren nicht zu finden, es gibt sie fast nur bei Reisebüro-Spezialisten, die meist in den USA sitzen.

Repositioning ist zu jeder Zeit, immer und irgendwo. Wer die Sache clever angeht, kann auf Repo-Schiffen die Welt umrunden. Und das, selbst heute noch, für vergleichbar kleines Geld. Grundkurs für Neulinge wäre etwa ein Transatlantik-Trip, im Herbst von Europa in die USA, nach Südamerika, in die Karibik. Reisedauer meist 14 Tage, es geht aber auch kürzer oder länger. Beinahe täglich starten Dutzende Kreuzfahrer zwischen Oktober und Dezember in Europa, von Kopenhagen, Barcelona, Rom, Southampton. Erster der diesjährigen Saison ist die „Norwegian Star“, die in zwölf Tagen von Kopenhagen mit einem knappen Zwischenstopp auf den Azoren nach Miami pflügt. Der Trip kostet in der Juniorsuite keine 1000 Dollar. Dafür gibt’s auf regulären Kreuzfahrten häufig nicht mal Ruderklasse.

Reposition-Rennstrecke ist, im Herbst von Ost nach West, im Frühjahr zurück nach Osten, die südliche Atlantikroute. Hier ließ einst schon Christoph Kolumbus reisen. Im Vergleich zur Nordstrecke, auf der die „Titanic“ ihren Eisberg schrammte, gilt die Südstrecke als geradezu lieblich. Doch eines muss jedem klar sein: Atlantik bleibt Atlantik, und gerade um die Südroute herum liegen die berüchtigten Brutnester vieler Hurrikans. Klar ist auch, dass manches Kreuzfahrtschiff für den Atlantik bedenklich hoch gebaut ist und ordentlich ins Schleudern kommen kann.

Haarsträubende Geschichten von Monsterwellen und Sturm gibt es reichlich, und die meisten stimmen sogar. Die gute alte „Queen Elizabeth 2“, für Transatlantikfahrten konstruiert, wurde einst von einer Monsterwelle überrollt, allerdings im Nordatlantik. Das riesige Ungeheuer brach in die Brücke ein und richtete dort schwere Verwüstungen an. Gern gehört wird auch die Story von einem Konzertflügel, der sich vor zehn Jahren auf der Jungfernfahrt eines italienischen Kreuzfahrt-Hochhauses mitten in einem Atlantiksturm in Bewegung setzte, einige Male hin und her rollte, und schließlich mit so dermaßen großer Wucht an die Bordwand krachte, dass Teile aus dem splitternden Fenster flogen und der Rest zu Kleinholz und Alteisen wurde.

Wer nun also keine Lust auf Atlantik hat, aber dennoch beim preiswerten Repositioning mitmachen möchte, findet durchaus Passendes. Ein wahlloser Griff in die Kiste: Los Angeles nach Miami durch den Panamakanal, 14 Tage auf der „Norwegian Pearl“ ab 750 US-Dollar. Die „Voyager Of The Seas“ fährt im Oktober von Singapur nach Sydney, 14 Tage ab 1150 Dollar. Am 8. Dezember startet die „Oceana Nautica“ von Dubai nach Kapstadt. Die 30-Tage-Reise gibt’s mit 63 Prozent Nachlass ab 8049 statt 21.900 Dollar. Und eine besonders edle Reposition-Perle startet am 2. März in Sydney, fährt über Brisbane, Tokio, Shanghai, Hongkong, Singapur, Bombay, Dubai und Capri und dockt nach68 Tagen in Southampton an – die „Queen Elizabeth“. Das Ticket wird bereits zu 13.200 Dollar angeboten – eine Art flottes Luxus-Schnäppchen.

Die Reise auf der „Eclipse“ nach Fort Lauderdale in Florida ist natürlich deutlich preiswerter. Immerhin ein Fünf-Sterne-Schiff, doch 13 Tage Balkonkabine sind für diese Reise schon ab 1100 Dollar im Angebot – jeder durchgesessene Businessclass-Sessel im Flieger von Deutschland nach Fort Lauderdale kostet mehr – one-way und ohne anständige Verpflegung wohlgemerkt.

Jetzt, nach vier Tagen auf See, hat sich das Leben an Bord deutlich entspannt. Man hat das Schiff erkundet und reichlich Zeit, sich die Mitreisenden näher anzuschauen. Der Altersdurchschnitt ist gehoben, weshalb die Disco abends eigentlich immer leer, der Spielsalon aber ordentlich voll ist. Vor allem mit Briten, die an den Pools leicht anhand von Blässe und bei Mahlzeiten an grenzwertig überfüllten Tellern auszumachen sind. Das andere Großkontingent stellen die Amerikaner. Akademische Mittelschicht, viele Lehrer und etliche emeritierte Professoren, die Zeit und Geld mit komplizierten Reposition-Trips um die Welt verbringen. Deutsche sind bei dieser Art Schiffsreisen noch immer selten.

Dabei bietet gerade die Atlantik-Tour in die USA ein paar exklusive Besonderheiten. Täglich gibt es ein anständiges Bordprogramm, Tanz- und Malkurse, Vorträge von Ex-Nasa-Größen über Raumfahrt, Grundsatzkurse in moderner Navigation, die erstaunliche Arbeit einer Glasbläsertruppe, die mit ihren Riesenöfen auf dem Oberdeck festgemacht hat, oder einen Kurzlehrgang in Sachen Oldtimerautos. Nicht zu vergessen die mehrtägige Kunstauktion, wie sie auf fast allen amerikanischen Kreuzfahrten zu Hause ist – eine äußerst nervtötende Angelegenheit. Trotzdem wird rasch klar, dass der normale Tag schon mal zu kurz werden kann, und so fügt es sich bestens, dass jeder zweite Tag auf 25 Stunden kommt, auf diese Weise wird der Zeitunterschied ausgeglichen. Abends trifft man sich, gediegen gekleidet, zum erstklassigen Dinner, meist mit vier Gängen, danach geht es ins Theater. The show must go on.

Die Tages-Büfetts sind reichlich beladen, „Eclipse“-Chefkoch Eddie Thomas aus Texas hat Lebensmittel für eine glatte Million Dollar gebunkert – für die 13 Tage. Was nicht gegessen ist, wenn das Schiff in Lauderdale festmacht, muss vernichtet werden, so wollen es die amerikanischen Gesetze. Also lädt Chef Eddie seine 2500 Passagiere drei Tage vor Reiseende zu einem gigantischen Brunch ins zweistöckige Hauptrestaurant. Ab zehn Uhr morgens gibt es vier Stunden lang ein wahrlich bombastisches Büfett mit allem, was Kombüse und Kühlkammern hergeben. Und die Leute essen, als wären sie ausgehungert. Abnehmen, sagt eine gestandene Londonerin ungerührt, könne sie schließlich bis zur Heimreise nach Europa. Sie will, wie viele andere Briten auch, den Winter im warmen Florida verbringen. Für die Rückfahrt Mitte April hat sie schon wieder die „Eclipse“ gebucht.

Zwei Tage später ist das Schiff seinem Ziel dann schon so nahe, dass am Horizont eine Handvoll anderer Cruiser auftauchen. Captain Manetas drosselt die ohnehin gemütliche Fahrt und klärt auf, dass zwei dieser Schiffe auf Kurs Miami lägen, die beiden anderen aber auch Fort Lauderdale ansteuerten. Die „Eclipse“ aber, sagt er stolz, komme als Erste dort an. Was den Ex-Professor vom Bostoner MIT besonders freut. Er müsse schließlich nach Miami hetzen und dort am Nachmittag ein Schiff nach Valparaíso erwischen. Zwar klappe das Schiffs-Hopping meistens, wenngleich Zoll und Passkontrollen die Sache häufig unberechenbar machten. Der Mann ist seit sieben Monaten unterwegs, sein ganzes Gepäck ist ein kleines Boardcase auf zwei Rollen.

Dann ist Fort Lauderdale für die nächsten sechs Monate der neue Heimathafen. Plötzlich liegt das Schiff fest, draußen bricht ein Höllenlärm los. Es ist früher Morgen, zwei Minuten vor fünf. Die „Eclipse“ ist überpünktlich, so hat man es gern. Die beschauliche Ruhe des Kreuzfahrer-Daseins ist beendet. Am Abend wird die „Eclipse“ mit 2800 frischen Passagieren in die Karibik starten, ein Zwei-Wochen-Törn, der sich bis April dann noch zwölfmal lupenrein wiederholen wird. Und dann, Mitte April, schwimmt der weiße Riese wieder über den Atlantik. Reposition nach Southampton. Alles wie gehabt. Nur werden die Tage diesmal jede zweite Nacht eine Stunde kürzer. Aber davon hat kein Reisender jemals einen Jetlag bekommen.