Bekannt sind die Regionen Sirdal und Setesdal als Skilanglaufgebiete. Auch herbstliches Wandern durch deren farbenprächtige Natur ist ein Erlebnis

Auf der Fahrt über die Gebirgsstraße taucht plötzlich ein gelbes Warnlicht vor dem Fahrzeug auf: Ein Radlader schleicht die Fahrbahn entlang, Arbeiter befestigen ein bis zwei Meter lange Stecken am Straßenrand: die Wegmarkierung für den Winter, wenn der Schnee den Straßenverlauf unsichtbar macht. Auch die Bauern in den südnorwegischen Wanderregionen Setesdal und Sirdal bereiten sich auf die kalte Jahreszeit vor. Im September werden 5000 bis 10.000 Schafe von den Berghängen zu Verschlägen im Tal getrieben – ein Fest für Einheimische und Touristen. In den Gattern werden die Tiere dann ihren Besitzern zugeordnet, die sie durch den Winter füttern.

Die Übergangszeit von Sommer- zu Wintertourismus ist ideal zum Wandern ein – für ruheliebende Naturfreunde, die noch dazu wetterfest sind, ist die Gegend perfekt geeignet. „Wer nach Norwegen kommt, wird nicht wegen des schönen Wetters anreisen“, sagt Lasse Eidskrem. Er ist Tourismusmanager im Setesdal, einem 147 Kilometer langen Tal, das sich vom südlichen Ort Evje zum nördlichen Wintersport-Ort Hovden ausdehnt. Lasse (in Norwegen nennt man sich beim Vornamen) setzt noch eins drauf: „Hier kommt man her, um Wetter zu erleben.“ Fast trotzig fährt er mit seinen Gästen im Nieselregen hinauf auf den Nos (1209 Meter), den in tief hängenden Wolken gehüllten Hausberg von Hovden. Der leichte Wind stimmt Lasse optimistisch. Und tatsächlich: Gegen Mittag reißt die Wolkendecke auf, die Sicht wird gut, und endlich lässt sich die Sonne sehen.

Die Wandersaison soll ausgeweitet werden, es gibt 33 neue Routen

Im Winter beleben 15.000 bis 20.000 Skitouristen den 300-Einwohner-Ort. Aber jetzt ist nur an den Wochenenden etwas los. „Wir versuchen im gesamten Setesdal die Saison auszuweiten. Dafür haben wir zusätzlich zu den Wegen des größten norwegischen Wandervereins DNT 33 weitere Routen angelegt. Viele sind einfach zu gehen, denn wir möchten auch Familien ansprechen.“ Tatsächlich lässt es sich vielerorts bequem laufen, zum Beispiel auf breiten Wegen (im Winter Langlaufloipen) oder nahezu ebenerdig an den Ufern von Seen und Flussläufen. Zudem besteht zumindest in Hovden die Möglichkeit, bei einer Gipfeltour nur einen Weg zu laufen und für den anderen den Sessellift zu nehmen.

Am Wegrand blüht jetzt noch die Heide. Pilze schießen empor, die letzten Blaubeeren bieten den Wanderern Vitaminnachschub. Die sich allmählich gelb färbenden Birken und ockerfarbene bis weinrote Gras- und Moosflächen kontrastieren mit den hellgrauen Felsen, dem Grün der Kiefern, dem tiefen Blau der Seen. Wenn jetzt die Sonne mitspielt, hat auch Norwegen einen farbenprächtigen Indian Summer wie in Nordamerika.

Zahlreiche Hotels werben in Hovden um lauffreudige Gäste, ein Campingplatz oder Hütten im Grünen bieten preiswerte Alternativen. Für die fast 250.000 Mitglieder des DNT (Den Norske Turistforening) kommt so etwas kaum infrage. Sie planen mehrtägige Touren von Hütte zu Hütte, die mindestens drei, gern aber auch sechs, sieben oder acht Stunden voneinander entfernt liegen. Und anders als die Holzhäuschen in den Orten haben die kleineren DNT-Hütten weder Strom noch fließend Wasser. Kerzen liefern das Licht, Brennholz die Wärme, und fließend Wasser gibt es direkt vor der Tür. Denn selbst in Höhen jenseits der Baumgrenze taucht alle paar Schritte ein kleiner oder größerer Bach, ein Tümpel oder ein See auf.

Die kleinen Hütten wollen erobert werden. Viele sind ausschließlich über felsige Pfade für geübte Wanderer erreichbar – wer strukturlosen Felsplatten ausweicht, landet schnell auf moorigem Grund. Bei anderen führt der Weg einige Meter durch Bäche. Für Norweger kein Problem. Ihnen ist das Wandern offenbar in die Wiege gelegt. Gleich hinter dem fußnassen Balanceakt über Trittsteine im Bach kommt ein Paar mit seinem fünfjährigen Sohn entgegen. Und Papa trägt einen Säugling auf dem Arm.

In welchem anderen Land der Welt sind auf den Verpackungen eines beliebten Pausensnacks (Kvikk Lunsj) verschiedene Wanderrouten abgedruckt? „Wir haben auch deutsche, dänische und niederländische Mitglieder“, sagt Marit Sølsnæs vom DNT-Süd mit Sitz in Kristiansand. Sie spricht fließend deutsch, schließlich hat Marit in den 1990er-Jahren in Mannheim Betriebswirtschaft studiert. Die ausländischen Mitglieder profitieren wie die norwegischen von niedrigeren Hüttenpreisen. Marit liebt die ruhigere Herbstzeit: „Je weniger Menschen einem auf dem Weg entgegenkommen, desto schöner war der Spaziergang.“

Viele Norweger wandern (oder fahren) zu ihren eigenen Hütten. „Die Region Sirdal hat 1800 Einwohner und 4000 Hütten“, sagt Odd Kvinen, Besitzer einer Huskyfarm im Örtchen Tonstand. Das Wandergebiet liegt westlich von Setesdal, eine Autostunde von der Ölstadt Stavanger entfernt. „Wir haben hier die höchsten Quadratmeterpreise für die Hütten“, sagt Odd. „Die Leute aus Stavanger können diese Preise bezahlen. Die Stadt ist durch das Öl die reichste Kommune Norwegens.“

Odd liebt die Natur mehr als das Geld und will diesen Gedanken gerade der jungen Generation näherbringen. „Sirdal lebt doch von der Natur“, sagt er. „Dazu gehört auch die Wasserkraft. Aus ihr erzeugt Norwegen zu 100 Prozent Ökostrom. Fünf Prozent davon werden hier produziert, deshalb gehört auch Tonstad zu den reichen Kommunen.“ Er selbst verdient das nötige Geld mit seinen 39 Hunden. Noch sitzen sie gelangweilt in ihren Zwingern oder stromern im Auslauf herum. Wenn jedoch der erste Schnee fällt, erwachen sie aus dem Sommerschlaf und ziehen begeistert Schlitten.

Odd Kvinen sagt von sich, er hätte den Kjerag bekannt gemacht, und es ist ihm anzusehen, dass er es ein bisschen bedauert. Kjerag ist ein Fels am Rande des Lysefjords und das spektakulärste Wanderziel der Region. Dort klemmt ein riesiger Stein, der Kjeragbolten, zwischen zwei Felswänden, die 1000 Meter senkrecht zum Fjord abfallen. Mutige ignorieren den gähnenden Abgrund am Rande eines kleinen Pfads am Fels entlang und besteigen den Gesteinsbrocken – das krönende Zielfoto einer dreistündigen, anspruchsvollen Bergetappe. Wer noch Kraft hat, kann bis zu einem Felsvorsprung laufen. Dann liegt ihm der Lysefjord zu Füßen. Er ist insgesamt 42 Kilometer lang und bis zu 500 Meter tief.

Als Odd vor 20 Jahren den bizarren Fels im Spalt im norwegischen Fernsehen vorstellte, gab es danach kein Halten mehr. Bei schönem Wetter stehen die Menschen im Sommer Schlange, um die schmalen, mit Ketten gesicherten Steige zum Aussichtspunkt hinaufzukraxeln. An Engstellen sind Wartezeiten um eine halbe Stunde möglich. Auch jetzt im Herbst sind bei bewölktem Wetter immer noch einige Dutzend Wanderer unterwegs, aber es bleibt genug Muße, um auf der Strecke immer wieder Blicke auf den Fjord zu werfen oder kurz vor dem Ziel die felsige Hochebene zu bestaunen. Wären nicht überall grüngelbe Vegetationsflecken eingestreut, dann sähe so wie hier eine Mondlandschaft auf Erden aus.

Der Lysevegen, die Straße, die den Ort Lysebotn am Ende des Fjords mit der Region Sirdal verbindet, ist im Winter gesperrt. Das gilt auch für den Verbindungsweg von Sirdal nach Setesdal. Vor ein paar Tagen standen hier noch einige Hundert Schafe. Eingezäunt. Auch sie wurden inzwischen ins Tal getrieben. Allmählich gehört das Hochland wieder den Rentieren. Nur in Südnorwegen streifen die zur Hirschfamilie gehörenden Rene noch völlig frei herum; der Bestand wird auf 12.000 bis 14.000 Tiere geschätzt. Ihretwegen ist ein Großteil Sirdals Naturschutzgebiet.

Dennoch beginnt im Herbst die Rentierjagd. Und auch Elche und Schneehühner geraten in die Visiere. Letztere sicherten in vergangenen Zeiten den wenigen, oft völlig isoliert lebenden Einheimischen ein Auskommen. Diese aßen das Geflügel nicht etwa selbst, sondern brachten die komplette Beute zur nächsten Ortschaft, wo die in der Landessprache „Rype“ genannte Spezialität in hochpreisigen Restaurants bevorzugt mit Moltebeeren zubereitet wurde.

Auch heute noch sind die wilden Hühner das wichtigste Jagdwild. Doch längst haben sich die Gemeinden und ihre Einwohner neue wirtschaftliche Standbeine geschaffen: die Wasserkraft und den Wander- und Skitourismus.