Vor 500 Jahren wurde mit dem Bau des Stadtwalls in Lucca begonnen – er prägt noch heute das Gesicht des stolzen Städtchens

Seit über 30 Jahren führt Signora Luisa im Zentrum von Lucca ihre Immobilienagentur mit einer Resolutheit, die ihresgleichen sucht. Doch wenn das Gespräch auf ihren ‚Mauerkomplex‘ kommt, wird sie verlegen wie ein Teenager. Als sie jung war, erzählt die 51-Jährige, habe sie in Livorno eine Lehre als Hotelfachfrau mit ausgezeichneten Aufstiegschancen absolviert. Doch die Weite des Meeres und der betriebsame Hafen hätten in ihr Angstgefühle ausgelöst. Sie sehnte sich nach dem schützenden Mauergürtel ihrer Heimatstadt und kehrte wieder zurück.

Die mehr als vier Kilometer lange und zwölf Meter hohe Stadtmauer um Lucca ist zweifellos die attraktivste der Toskana. Im 15. Jahrhundert gegen die Expansionsversuche von Florenz begonnen, wurde der gigantische Verteidigungswall Anfang des 19. Jahrhunderts mit 2000 Ulmen, Pappeln und Platanen zur „Passeggiata delle Mura“, zur Promenade mit Gartenbänken und sogar einem kleinen Café ausgebaut: für Spaziergänger, Radler, inzwischen auch für Jogger – und natürlich für Liebespärchen. Eine Art romantische Aussichtsterrasse mit Blick über die gesamte Stadt bis hin zu den Apenninen.

Lucca ist ein in sich geschlossenes und zugleich ganz weltoffenes Kunst- und Handelsstädtchen. Im Mittelalter verdankte es seinen Reichtum insbesondere der Herstellung und dem Handel mit kostbaren Stoffen. Eine unabhängige Politik führte zu einer Mentalität des Selbstbewusstseins und des Aufwärtsstrebens. Auch baulich gesehen. Familien von Rang und Namen errichteten weithin sichtbare Wehr- und Wohntürme, auf die sie Büsche und Bäume pflanzten. Die Stadt muss damals wie ein Märchenwald ausgesehen haben. Von der Città Turrita ist heute nur noch der Torre Guinigi mit seinem Blätterwald übrig geblieben, dessen Plattform man atemlos nach 226 steilen Stufen erreicht.

Die 85.000 Luccheser sind ans Laufen gewöhnt. Große Teile der Innenstadt sind für den Autoverkehr gesperrt. Als Fortbewegungsmittel dient immer noch das gute alte Fahrrad, das fast vor jedem Hauseingang, vor jedem Laden steht. In geübtem Slalom geht es durch die engen, kurvigen Gassen, in denen sich Altes und Neues aneinanderreiht: angesagte Boutiquen und antike Confiserien, Hightech-Geschäfte und Trödelläden. Epizentrum des allabendlichen Trubels ist die Einkaufs- und Flaniermeile Via Fillungo, übersetzt: langer Faden. Ehrfurchtsvoll nehmen Besucher zur Kenntnis, dass im Caffè Storico Letterario, dem ältesten Kaffeehaus Luccas, Giacomo Puccini nicht nur mit Literaten und Künstlern seinen „Schwarzen“ eingenommen, sondern auch Passagen seiner weltbekannten Opern komponiert haben soll.

Puccini ist mit Abstand der bekannteste Name, den Lucca aufzuweisen hat. Die Stadt hat daraus nie einen Kult gemacht. Neben einem Restaurant und einem kleinen Hotel, die seinen Namen tragen, erinnert nur ein Denkmal vor dem Geburtshaus, heute ein Museum, an den großen Musiker. Das eigenwillige Temperament des Künstlers war den Lucchesern von jeher fremd. Als Puccini, kaum 20-jährig, die sonntäglichen Messen im Dom auf der Orgel begleitete, warf man ihm vor, das Theater in die Kirche zu bringen, und verweigerte ihm die Nachfolge auf den väterlichen Posten als Domkapellmeister. Der Stadt ging ein begabter Organist verloren, und die Welt gewann einen ihrer größten Opernkomponisten.

Tradition und ein gewisser Wohlstand mit Diskretion – das gehört auch heute noch zu Lucca. In kaum einer anderen Stadt der Toskana gibt es so viele zum Teil jahrhundertealte Geschäfte und Betriebe. Fast kokett stellen sie in alter Tradition verwitterte, aber liebevoll gepflegte Schilder und Fenster zur Schau. Carli, das älteste Juweliergeschäft Italiens, mit seinen kunstvoll geschnitzten Holzvitrinen, in denen seit 1665 Gold und hochkarätige Edelsteine funkeln, ist kaum zu übersehen. Mitten im Laden steht ein Tresor aus dem Jahr 1700, der in Nürnberg hergestellt wurde und immer noch perfekt funktioniert. In der Bottega del Prospero, nur ein paar Schritte entfernt, versorgt die Familie Marcucci bereits in der fünften Generation die Luccheser mit hochwertigen Gewürzen, Hülsenfrüchten, Nudeln, Öl, Wein und Bio-Produkten aller Art im althergebrachten Kolonialwarenstil. Ein Dorado für Slow-Food-Fans. Und wer kennt noch nicht die Konditorei Taddeucci, die seit 150Jahren den besten „buccellato“ der Stadt herstellt? Selbst der „New York Times“ war der ringförmige Brotkuchen mit Rosinen und Nüssen ein paar Zeilen wert.

Seit Kurzem hat man auch die traditionelle Seidenherstellung wiederentdeckt. An der Piazza dell’Anfiteatro mit ihren hübschen ockerfarbenen Häusern haben sich Jungunternehmerinnen niedergelassen, die Deko-Stoffe mit antiken Ornamenten, teils in eigenen Webereien, herstellen. An dem Oval, das immer wieder Reiseprospekte ziert, lässt sich erkennen, dass der Platz im Mittelalter auf dem Fundament eines römischen Amphitheaters erbaut wurde. Die kleinen Läden mit je einem Zugang zum Platz und einem zu der ihn umgebenden Ringstraße, laden zum Stöbern ein – vor oder nach einem Aperitif in einer der gemütlichen Bars.

Ein paar Querstraßen weiter liegt die Piazza Napoleone, die man vom Bahnhof kommend durch die Porta San Pietro, das älteste der sechs Stadttore, betritt. Der weitläufige Platz mit seinen zahllosen Trattorien und Pizzerien unter Schatten spendenden Platanen, den Napoleons Schwester Maria Luisa anlegen ließ, strahlt noch ein wenig französisches Flair aus. Den Touristen dient er gern als Ausgangspunkt für die Erkundung des sakralen Zentrums der Stadt.

Dass die Stadt ihre Eigenheiten über Jahrhunderte hinweg bewahren konnte, erklärt Signora Luisa, hängt auch mit der Mauer zusammen, die sie von der Außenwelt abgeschirmt hat. Das große Jubiläum feiern die Lucceser den Herbst über mit Vorträgen, Ausstellungen und einem Marathon. Inzwischen weist der Mauergürtel allerdings erhebliche Alterserscheinungen auf. Die sieben Millionen Euro teuren Sanierungsarbeiten sollen nach den Feierlichkeiten beginnen.