Des einen Lust ist des anderen Frust – oder: Ein Seestern taugt eben nicht als Edelweiß

Etappe 29 des Salzburger Almenwegs wurde niemals vollbracht. Streng genommen sitzt die lahmste Wanderin der nördlichen Alpen noch immer auf dem Schotterweg vor der Sulzkaralm – mit einem samt Wanderschuh umgeknickten Knöchel auf dem ungefähr einfachsten Abschnitt der einzigen Wandertour ihres Lebens. Sie sitzt da und wartet auf die Ambulanz, die ob ihrer Schmerzensschreie eilig von der Wanderführerin alarmiert wurde und sie ins Tal bringen wird, weg von den Bergen, die nie ihre Heimat waren und es wohl nie werden sollen.

Um darzustellen, wie es zu dem abrupten Stopp des Fußwegs kam, und um den wahrhaft langweiligen Rhythmus der Wanderin auf die Spitze zu treiben, sehen wir uns die Tour vom Stein des Anstoßes und Stolperns ab einmal rückwärts an:

Eben noch saßen die einheimische Wanderführerin und die beiden absoluten Anfängerinnen aus Norddeutschland samt puscheligem kleinen Hund vor der Sulzkaralm in der Sonne bei Kaffee und Brotzeit.

Das erste, ausgiebige Frühstück hatte die Gruppe auf der Hofpürglhütte genossen, auf der als Endstation der Etappe 28 genächtigt worden war. Es war für unsere Schneckenwanderin eine traumlose Nacht in einer einzigen Tiefschlafphase gewesen, denn die vorausgegangene Tour, eine immerhin abgespeckte Etappe mit Startpunkt Bachlalm über Sulzenhals, Gipfelkreuz und Rinderfeld, hatte der 48-Jährigen jegliche Kräfte geraubt und ihr die Gewissheit beschert, dass Wandern nicht ihre Lieblingsart der Fortbewegung ist.

„Nein, das ist ganz normales Wandern“, hatte die Führerin ihr milde lächelnd geantwortet auf die vorsichtige Anfrage, ob es sich hier nicht doch um so etwas wie Bergwandern handele. Der kleine Trupp sollte auf 17 Streckenkilometern immerhin etwa 700 Höhenmeter hoch und knapp 500 wieder hinunter zurücklegen. So anstrengend, dachte sich die Schnecke mit hochrotem Kopf, ist normales Wandern?

Wirklich schön war nur das Rinderfeld – fast wie in Norddeutschland

Über mehr als sechs Stunden bemühte sie sich, mit der Österreicherin Schritt zu halten. Hatte sich zuvor um ihre Teenager-Tochter gesorgt, die ihr aber, wie sich herausstellte, mit den überlangen, gar nicht so muskulösen Staksen konditionell haushoch überlegen war. Und um den kleinen Hund: Würde der mit seinen (immerhin vier) kurzen Beinen in dem ungewohnten Gelände klarkommen? Er kam. Er war sogar augenscheinlich die Reinkarnation einer Bergziege. Hüpfte über Baumwurzel und Stein, sog von Murmeltier über Gämse und allerlei Kriechzeug ihm neuartige Gerüche auf und blieb immerhin das, was seine Rasse auszeichnet: ein Begleithund.

Trotzdem fühlte die Schnecke sich irgendwie allein gelassen. Zumindest von ihrer Kondition. Das Erreichen des Gipfelkreuzes bei schneidend kaltem Wind – war es nicht eben noch unerträglich heiß, oder woher kam ihre purpurne Gesichtsfarbe? – brachte ihr weder Befriedigung noch den ersehnten Energieschub. Schnell ein unvorteilhaftes Erinnerungsfoto, wieder weg vom Kreuz und in den Windschatten des nächsten Abstiegs. Überhaupt ging es ständig auf und ab. Wofür bloß? Hätte nicht längst schon jemand mal ein paar Stege ins Geröll zimmern können?

Jedes Mal, wenn die Wanderführerin stehen blieb und ausrief: „Seht mal, wie herrlich!“, beguckte die Schnecke verwirrt das Panorama, wusste, dies hätte eigentlich ihre Aussage sein sollen, und ließ sich die Namen der einzelnen Gipfel aufzählen – unterscheiden konnte sie zu keiner Zeit irgendwelche der massiven Gebilde. Auch war sie auf den engen Pfaden am Hang permanent bemüht, nicht an irgendeiner Stelle abzurutschen. Wanderstöcke hin oder her.

Wirklich schön war das Rinderfeld! Die weite, grasbewachsene Ebene mit urigen Kalksteinbrocken erinnerte an eine norddeutsche Hügellandschaft. Es ging geruhsam seicht auf und ab. Und in der Ferne konnte man, von dem aufmunternden Zeigefinger der Wanderführerin gewiesen, das Etappenziel Hofpürglhütte erkennen.

Allerdings trog die überaus gute Sicht: So nah war das Häuschen gar nicht. Es mussten noch knappe vier Kilometer zurückgelegt werden. Und es ging natürlich noch einmal bergab und -auf. Mit zitternden Beinen erreichte die unfähigste Wanderin der Welt zur Dämmerung die rettende Hütte. Vielleicht hätte sie sich statt für eine besser gleich für drei Nächte einquartieren sollen, denn am nächsten Morgen waren die Glieder noch schlapp, die Beine weich. Dies und wohl eine kleine Unachtsamkeit auf dem Schotterweg von der Sulzkaralm ließen unsere Wanderin straucheln und den linken Fuß umknicken. Da liegt sie nun heute noch...

Nein, die Ambulanz hat sie weggekarrt. Der Knöchel wurde geröntgt – Bänderdehnung –, mit Kortison gekühlt und geschient. Mitgebracht von der Wanderung hat die Schnecke fünf Wochen Entschleunigung: Mit angelegter weiß-türkiser Bandage konnte sie nur gaaanz langsam in Segelschuhen gehen, andere passten nicht.

Heute stöckelt sie, ein bekanntes Volkslied über die Lust einer speziellen Berufsgruppe summend, wieder über Hamburgs platte Straßen. Die Berge sind ganz weit weg.