Es entschleunigt, es ist die natürlichste Fortbewegungsart des Menschen – und es eröffnet besonders Städtern neue Welten. Über das Wandern berichtet diesmal ein ganzer Reiseteil.

Was ist Glück? Stellen Sie sich vor, ein langer Wandertag liegt hinter ihnen, die Füße schmerzen, die Kehle brennt, der Schweiß rinnt. Und dann kommen Sie endlich auf der Alpenvereinshütte an, holen sich eine Maß Apfelschorle, schwenken auf die Terrasse vor großer Bergkulisse, und dann, dann setzen Sie sich endlich nieder. Es ist ein Moment zum Niederknien. Ein faustischer Augenblick, in dem man seufzen möchte: „Verweile doch, du bist so schön!“ Nur dass es dazu keines Mephistos bedarf, sondern lediglich gesunder Beine, guter Ausdauer und anständiger Schuhe.

Laufen ist ein Kinderspiel. Das Wandern ist uns in die Wiege gelegt. Noch bevor wir die Welt in Worte fassen, wackeln wir los. Doch die natürlichste Fortbewegungsart ist uns fremd geworden. Waren unsere Vorfahren noch 30 bis 40 Kilometer pro Woche zu Fuß unterwegs, vertreten wir Stubenhocker uns heutzutage nur noch knapp fünf Kilometer die Beine. Zur Entspannung besuchen wir teure Selbstfindungsseminare, ziehen uns ins Kloster zurück oder beginnen in der Toskana zu töpfern, wie buchen Ayurveda-Reisen, probieren Yoga, Tai-Chi oder Feldenkrais. Dabei könnten wir uns auf die einfachste aller Reiseformen besinnen. Und einfach wandern. Seit 150 Jahren gibt es Wanderverbände, aus der Bewegung wurde zwischenzeitlich die Jugendbewegung Wandervogel, nicht einmal Stocknägel und Kniebundhosen konnten die Begeisterung brechen. Heute ist Wandern wieder hip – egal ob als Pilger auf dem Jakobsweg oder als Alpenüberquerer.

Wandern ist keine Kilometerfresserei, sondern Metergenuss

Beim Wandern ist der Mensch ganz bei sich, er findet Maß und Mitte. Das Wandern ist die natürlichste aller Geschwindigkeiten, fünf Stundenkilometer sind das Tempo, in dem Kopf, Geist und Gemüt zu folgen vermögen. Es ist keine Kilometerfresserei, sondern Metergenuss, kein Vorbeihasten, sondern Wahrnehmen, es ist die Entdeckung der Langsamkeit. Schon der Weg zur Arbeit, den wir hundertfach mit dem Auto, dem Bus, dem Rad zurückgelegt haben, wirkt plötzlich neu und anders, weil sich dem Flaneur die Welt neu erschließt. Die Rose am Wegesrand, spielende Kinder auf dem Trottoir, wehende Vorhänge, bunte Plakate, Gerüche, Geräusche – das Wandern öffnet Augen, Ohren – und Welten.

Und es ist gesund. Fast gegen jede Zivilisationskrankheit wirkt es Wunder: Es stärkt Herz und Kreislauf, senkt Cholesterinwerte und Blutdruck, hilft dem Geist auf die Sprünge, verbessert das Immunsystem, reduziert die Stresshormone und einer Studie zufolge sogar das Brust- und Darmkrebsrisiko. Wer regelmäßig wandert, leidet außerdem weniger an Gelenkproblemen, Übergewicht und psychischen Beeinträchtigungen. Man baut Muskeln auf und verbrennt laufend Fett, rund 55 Kalorien bleiben pro gewandertem Kilometer auf der Strecke.

Und es funktioniert überall. Dem Stadtwanderer erschließen sich ganz neue Seiten – egal ob er entlang der Elbe ausschreitet, dem zehnten Längengrad folgt oder den Marathon in einen Spaziergang verwandelt. Am besten aber wandert es sich in der Natur. Deutschland ist durch seine Mittelgebirge ein Wanderparadies – die Landschaft ist abwechslungsreich, das Gehen nicht zu beschwerlich. Ob im Harz, im Schwarzwald oder auf dem Rennsteig, Natur und Kultur wechseln sich ab. Die Wege sind bestens ausgeschildert, die Infrastruktur ist perfekt, überall gibt es Wirtschaften zum Einkehren. Denn eine Pause wird erst durchs Wandern richtig schön.

Abenteurer zieht es ohnehin mehr ins Hochgebirge. Wer jemals von Hütte zu Hütte durch die Alpen marschiert ist, nimmt Europas Gebirge anders wahr: Er lässt das Remmidemmi der Tourismusorte hinter sich und teilt die Wege fortan nur noch mit Gämsen, Steinböcken, Kühen. Loslaufen heißt loslassen. Die langen einsamen Wege spülen den Alltag fort und machen den Kopf frei; selbst Handy-Süchtige lassen von ihrem Laster ab, weil es an Netz fehlt. Der Weg ist das Ziel, jeder Wandertag hat Höhen und Tiefen, Berge und Täler, Momente des Glücks und Augenblicke der Erschöpfung. Kilometer zählen nicht mehr, nur noch Höhenmeter.

Der Tag reduziert sich auf frühes Aufstehen, langes beharrliches Wandern, Hüttenzauber, frühe Nachtruhe. Die Alpenvereinshütten sind das Gegenteil eines Luxusresorts: Sie haben selten Duschen und offerieren gerade im Sommer oft nur die berüchtigten Schlaflager, deren Komfort sich durch viel Schnarcherei und wenig Platz auszeichnet. Aber sie bieten etwas Einmaliges: Naturverbundenheit. Einfachheit. Authentizität. Sie liegen so malerisch an Bergwände geduckt, an Zinnen gelehnt oder auf Vorsprünge gestellt, dass dem Wanderer das Herz aufgeht. Und weil der Hunger so groß ist, schmeckt die einfache Küche brillant, verwandelt sich ein Pils in das beste Bier der Welt. Viel Geld ausgeben kann man kaum – selbst im Zweibettzimmer zahlt man als Alpenvereinsmitglied nie mehr als 25 Euro. Obwohl der Urlaub extrem günstig ist, trifft man nicht selten Besserverdiener auf den Hütten. Aber in Wanderstiefeln beim Bergsteigeressen sind ohnehin alle gleich. Und allen, die in der Abendsonne das Panorama genießen, steht das gleiche entrückte Lächeln ins Gesicht geschrieben.

Wandern verbindet. Und macht verdammt glücklich.