Wenn der Nachwuchs mit auf Wanderung geht, erhalten Eltern einen ganz neuen Eindruck von der Bergwelt

Früher war Bergsteigen absolute Ruhe. Wir haben selten ein Wort gewechselt beim Aufstieg, auf dem Gipfel die Aussicht genossen. Für Unterhaltungen war im Alltag reichlich Zeit, Lärm gab es zu Hause schließlich genügend. Und jetzt raschelt und schmatzt und lacht und weint und singt ständig jemand in mein Ohr. In meiner Kraxe sitzt Lena, 15 Monate, unser erstes Kind. Unsere erste Bergtour mit ihr zusammen. Bewusst haben wir die Nockberge in Österreich gewählt, denen der Millstätter See zu Füßen liegt. Die Region gilt als äußerst familientauglich. Sanft heben sich die grünen Gipfel in den Kärntner Himmel, das Wetter ist sehr beständig, Niederschläge eher selten, die Temperaturen moderat.

Leider ist Lena anfangs nicht gut gelaunt. Sie möchte ständig unterhalten werden, sonst beginnt sie zu weinen. Also machen wir jedes Mal „muuuh“, wenn wir eine Kuh sehen. Sind keine Rindviecher in Sicht, reichen wir unserer Tochter Stoffhase oder Mini-Eisbär. Die fliegen dann abwechselnd auf den Boden. Schließlich packen wir die Keksdose aus, um uns ein bisschen Erholung zu verschaffen. Irgendwann nickt Lena ein, und ihre Mutter weist mich darauf hin, dass ich nun laufen müsste, als hätte ich rohe Eier unter den Füßen, um ihren Schlaf nicht zu stören.

Trotzdem zählt diese Wanderung hoch über dem Millstätter See zu den schönsten Bergerlebnissen unseres Lebens. Sie wird uns besser im Gedächtnis bleiben als so manche Vier- und Fünftausender, die wir in der Vor-Lena-Zeit erklommen haben. Wir waren immer akribisch in der Planung, haben uns strenge Zeitpläne gesetzt, sind bei Mondlicht aus dem Zelt gekrochen, um bei Sonnenaufgang auf dem Gipfel zu stehen. Wir waren sportlich ambitioniert, haben in Tirol oder im Allgäu die Zeiten auf den Wanderschildern um Längen unterboten. Heute Morgen war die Planung schon dahin, als Lena einfach nicht aufwachen und wir nicht ihr Zimmer stürmen wollten. Frühstück, Anziehen, Zusammenpacken, Losfahren – alles hat doppelt so lange gedauert, als wir dachten. So waren wir erst um 11.30 Uhr am Ausgangspunkt der Tour. Früher hatten wir uns um diese Zeit schon längst ins Gipfelbuch eingetragen und über die Wanderer gelächelt, die ihre Stöcke auspackten, als wir vom Parkplatz wieder abfuhren.

Warum also beeindrucken uns diese Touren mit Lena so? Plötzlich erhalten wir einen neuen Blick. Unsere Tochter entdeckt die Bergwelt, sieht Dinge, die wir 100-mal gesehen, aber nie richtig wahrgenommen haben. Wenn Lena staunt und lacht über eine wiederkäuende Kuh, wenn sie quietscht vor Freude, weil eine Pferdemama mit ihrem Fohlen kuschelt, dann rückt es in den Hintergrund, ob wir für die Wanderung drei oder fünf Stunden brauchen. Es wäre ohnehin nicht mehr möglich, den Turbo zu zünden. Einer von uns trägt immer zehn Kilo Lena, der andere den vollgepackten Rucksack, bei dem kaum noch die Reißverschlüsse zugehen.

Als die Laune unserer Tochter steigt, staunt sie über Wanderer mit Tirolerhut, möchte Gamsbärte streicheln und von anderen Bergsteigern gestreichelt werden. Wo wir auch hinkommen: Sie steht im Mittelpunkt, und wir sind glücklich über unseren Zwerg. Und wir sind stolz auf uns, dass wir alle unsere Bergsteiger-Prinzipien über Bord geworfen haben, und uns trotzdem wohlfühlen.

Wenn gerade mal kein Gamsbart oder Tirolerhut in der Nähe ist, dringt wieder Lenas Leidenschaft für Steine durch. Zu Hause will sie sich um jedes Stückchen Rollsplitt persönlich kümmern. Die Berge sind ihr steingewordenes Paradies. Sie hat noch keinen Blick für den geheimnisvollen Wasserfall oder den mystischen Bergwald, aber bei jeder Pause eilt sie von einem Steinhaufen zum nächsten. Form und Farbe sind ihr egal, Hauptsache groß und schwer.

Gequetschte Füße in kaltem Bachwasser – ein fantastisches Gefühl

Auch als wir einen kleinen Bach passieren, will Lena sofort aus der Kindertrage raus. Sie fischt Steine aus dem Wasser und planscht vor sich hin. Zum ersten Mal ziehen wir während einer Bergtour unsere schweren Stiefel aus und erfrischen die gequetschten Füße in dem kalten Bachwasser. Ein fantastisches Gefühl. Es musste erst unsere Tochter geboren werden, damit wir in diesen Genuss kommen.

Derweil gehen Familien mit größeren Kindern an uns vorbei. Sie können bequem nebeneinander wandern und sich unterhalten, weil die Wege meist breit sind. Gelegentlich tauchen kleinere Pfade auf, die sich durch den Wald schlängeln. Es ist herrlich, wenn plötzlich wieder die Bäume weichen und der Blick frei wird auf die Berge ringsum. Lena quietscht, wenn ein Gipfelkreuz in Sichtweite ist. Früher haben wir das nur selten wahrgenommen, der Blick war meist nach unten auf den Boden gerichtet, schließlich wollten wir schnell nach oben. Jetzt bleiben wir jedes Mal stehen, holen sogar die Karte hervor und zeigen Lena, welcher Berg vor uns liegt. So intensiv haben wir noch keine Wanderregion wahrgenommen. So lange hat es auch noch nie bis zum Gipfel gedauert. Und noch immer liegt der steilste Anstieg auf den Klomnock (2331 Meter) vor uns.

Als wir an einer Almhütte auf andere Kinder treffen, fühlt sich Lena richtig wohl. Obwohl viele älter als unsere Tochter sind, spielen alle gemeinsam mit Sandförmchen und Steinen. Wir kommen mit einem österreichischen Paar ins Gespräch. Dessen Tochter heißt Lara und wurde ebenfalls vor 15 Monaten geboren.

Die Familie hat heute auch ihre erste Bergtour gemacht, allerdings wirken die Eltern erschöpft und unglücklich. Mehr als zehn Minuten halte es Lara nicht in der Kraxe aus, erzählen sie. Deswegen seien sie nur bis zur Hütte gekommen, den Gipfel würden sie nicht schaffen. Wie die Aussicht oben denn gewesen sei? Tja, wir haben uns mehr auf Stoffhasen und Pferdemamas konzentriert und können beschreiben, wie wohltuend es ist, die Füße in einen kalten Gebirgsbach zu hängen. Aber der Blick vom Gipfel? Wir holen schnell unsere Kamera hervor und präsentieren das entsprechende Foto.