Einst hässliche Schwester Stockholms und Kopenhagens, formt sich Norwegens Hauptstadt zu einer der aufregendsten Metropolen der Welt. Dank einer jungen Generation, die ihre Heimat neu erfindet

Sonnenbrille auf, durchs Gehämmer zum Baufahrstuhl. Zwei Arbeiter weichen zurück. „Mit rein. Nur keine Pause“, befiehlt Petter. Nun stehen sie da, Nase an Nase, die beiden im Blaumann und der Exot mit der Pfauenfeder am Revers. „Werden wir pünktlich fertig?“ – „Ja, Chef.“ Petter Stordalen lächelt. Unternehmer, Investor, Hotelier. Gerade 50 Jahre alt, Hunderte Millionen schwer. Natürlich wird es rechtzeitig fertig, sein Hotel. Granit, Marmor, hoteleigener Kurator, in den Suiten Kunst von Peter Blake und Bryan Ferry. Der Name: The Thief!

„So kannst du ein Hotel nicht nennen“, hatten Berater gewarnt. Wer von der Wall Street soll hier einchecken in Zeiten, wo Banker als Bänkster verrufen sind? Petter schüttelt den Kopf über solchen Mangel an Fantasie. „Soll ich das Hotel Oslofjord nennen? Oder Nr. 1? Fuck that!“ Die Gegend war einst Nest der Gauner, Heimat der Huren. Der Name passt. „Ich will was Ehrliches.“

Ankunft auf dem Dach. Petter hebt den Kopf, breitet die Arme aus. „Stell dir vor, du wirst hier wach. Du bist der König von Oslo!“ Laut klingt seine Stimme nach. Hinter ihm: der Fjord. Vor ihm: Tjuvholmen, Oslos neues Viertel mit seinem Skulpturenpark, dem Astrup-Fearnley-Museum für moderne Kunst, Galerien, Restaurants. Den Platz am Wasser, den hat sich Petter gesichert, mit The Thief, Bootsanleger, Dachterrasse. „Paris? London?“, ruft er, „Oslo!“

Norwegen, einst Armenhaus Skandinaviens. Oslo, einst hässliche Schwester Stockholms und Kopenhagens. Bars, Boutiquen, gute Restaurants? „Es gab nichts“, sagt Petter. Aus ganz Europa kommen jetzt die Menschen. Künstler, Unternehmer, Banker. Oslo hat sich zu einem aufregenden Platz in Europa entwickelt. Dank seines Reichtums. Und einer jungen, unbändigen Generation, die dabei ist, ihre Stadt neu zu erfinden.

Leute wie Petter Stordalen, Unternehmer, so unkonventionell wie die Feder an seinem Sakko, der Millionen für Umwelt und Soziales ausgibt. Der aus dem Nichts kam, ganz wie Oslo selbst; vor 16 Jahren kaufte er ein paar Herbergen, heute führt er über 170 Hotels, ist Chef von mehr als 9000 Mitarbeitern und setzt rund 770 Millionen Euro um. Er liebt den großen Auftritt, die Attitüde, und immer ist die Botschaft: Wir sind hip. Auf YouTube postet er Filme, in denen seine Manager ihre Krawatten verbrennen. Bei der Eröffnung eines Hotels zertrümmert er eine Gitarre.

Zu spät und mit iPhone am Ohr ist er zum Treffen gekommen, weil er die Nacht versackt ist, und zu früh und wieder mit iPhone am Ohr wird er davonrennen, weil er den nächsten Deal besprechen muss. Hotels hat er ersonnen, in einer Radikalität, wie sie derzeit zu Oslo passen: „The Thief, das einzige Hotel der Welt, wo es sich schon lohnt, einzuchecken, nur um einen Kunstraub zu begehen“, wie er sagt. Oder das Comfort Hotel Xpress im Szeneviertel Grünerløkka für eine Generation, die weder Minibar noch Bademantel braucht, nur WLAN und einen guten Preis. Empfang? Bettwäsche-Service? Petter lacht: „Du bist in Oslo.“ An einem Tresen steht ein Junge mit Musik auf den Ohren, der hilft, falls einer – was selten geschieht – nicht mit dem Check-in klarkommt. Die Putzfrau kommt alle paar Tage. „Wechselst du täglich die Bettwäsche?“

Nein, herzeigen will Ole es nicht, das Modell, das dem 3-D-Drucker entsprungen ist. Das Modell einer Villa, die zur neuen Heimat eines Künstlers werden soll, eines großen Norwegers, der in New York lebt. Noch. Er will, wie so viele, heimkehren. „Oslo durchlebt gerade eine entscheidende Zeit“, sagt Ole. „Wir alle wollen die Stadt entwickeln.“

Ole Gustavsen, Glatze, schwarzer Rolli, Anzug, Chef des Architektenbüros Snøhetta. Die Bibliothek von Alexandria ist ein Werk von Snøhetta, der Museumspavillon am New Yorker Ground Zero und Oslos Oper: eine Eisscholle aus Marmor, direkt am Wasser und in der Sonne so gleißend, dass Experten zur Sonnenbrille raten, um Schneeblindheit vorzubeugen. Gekostet hat der Bau 500 Millionen Euro.

„Vor 20 Jahren hätte sich Oslo diese Oper nicht leisten können“, sagt Gustavsen. Nun sollen sogar noch eine Bibliothek und ein Munch-Museum folgen, das einst elende Viertel zwischen Bahnhof und Hafen zu einer führenden Kulturmeile Europas machen. Flankiert wird es vom „Barcode“, mehreren Bauten, die sich je nach Blickwinkel zu einem verbinden: Oslos neuer Skyline. Wie Petter, der gern über Norwegens Ölfelder doziert, trägt auch Ole ungefragt Wirtschaftsdaten vor. „Wir haben den größten staatlichen Investmentfonds der Welt“, sagt er, „und Anteile an 80 Staaten der Welt, an Ebay, Google, Facebook. Das macht etwas mit uns.“

Vor rund 20 Jahren, sagt er, fiel die politische Entscheidung: Oslo sollte von einer Stadt für Schiffe zu einer Stadt für Menschen werden. In der Hafengegend wächst das neue Oslo: Tjuvholmen mit dem neuen Museum und dem Thief. Das Opernviertel, wo man derzeit vor Bauzäunen kaum mehr ans Wasser kommt. Der Barcode. Und dazu, etwas im Osten, Grønland und Grünerløkka, die alten Arbeiterviertel, fast verschwunden hinter Gerüsten, Planen und Kiesbergen. „Für uns Architekten ist das ein Paradies“, sagt Ole Gustavsen. 100 Snøhetta-Mitarbeiter sind sie in der Osloer Hafenhalle. Am Eingang, hinter der Stahltür, durch die früher Fischer gingen: ein Kunstwerk, ein Kleid aus schwarzen Kreditkarten. An der Decke hängen Überbleibsel einer Party. Eine von vielen! Denn hat ein Mitarbeiter Geburtstag, darf er hier feiern, auf Kosten der Firma. Sie stellt sogar den Koch. Der Fjord vor der Tür leuchtet mal blau, mal grün, schwarz, graugelb. Der Atlantik. „Wenn du den Finger reinhältst, ist es das gleiche Wasser wie in New York. Eine direkte Verbindung. Das kannst du spüren“, sagt Ole. Wahrscheinlich 2014 eröffnet Snøhetta den Pavillon am New Yorker Ground Zero, wo die Türme des World Trade Center standen. Und Oslos „Ground Zero“?

Im Regierungsviertel, wo der Rechtsradikale Anders Breivik im Sommer 2011 eine Autobombe zündete (bevor er auf Utøya 69 Menschen erschoss), hängen noch immer Planen vor den zerborstenen Fenstern. Die Stadt lässt sich Zeit beim Finden einer architektonischen Antwort auf das nationale Trauma. Die Gebäude stehen noch; das macht die Sache nicht einfacher. Abriss oder Renovierung? Wie viel Offenheit, wie viel Sicherheit?

Die politische Entscheidung, von der Ole Gustavsen gesprochen hat, gefällt wurde sie wenige Hundert Meter entfernt von dort, wo Snøhetta sitzt. Im Rathaus, einem Backsteinklotz ohne Zierrat und jede Spielerei. Bürgermeister Fabian Stang zu treffen hat etwas von einer Lösegeldübergabe: Halten Sie sich bereit, wir sagen Ihnen, wann und wo. Schnell muss es gehen. Hektisch ist es heute im einst beschaulichen Oslo.

Also Zwischenstopp bei jenem Stadtplaner, der den Bau all der neuen Viertel koordiniert. Eng ist es geworden in der Stadt, die ganze Welt scheint herzudrängen, Ukrainer, Polen, Briten, Deutsche, Schweden, Dänen und natürlich Norweger aus der Provinz. Oslo hat derzeit 600.000 Einwohner. In zehn Jahren sollen es 800.000 sein. Um jedem neugeborenen oder zugezogenen Kind einen Schulplatz bieten zu können, muss Oslo von nun an jede Woche einen neuen Klassenraum fertigstellen.

„Ich bin sehr privilegiert“, sagt Bård Folke Fredriksen. „In dieser Position zu arbeiten, in dieser Zeit.“ Um ihn herum, in seinem Eckbüro, stapeln sich Kisten und Dokumente. „Wir erleben unseren größten Wandel, seit die Stadt niederbrannte.“ 1624 war das. Er holt Pläne hervor, blättert, redet. „Oslo hat durchaus Platz, dank des Hafens“, sagt er. „Der kritische Punkt: Die Stadt muss Balance halten.“ Balance zwischen Bahnen und Autoverkehr, zwischen Naturschutz und Urbanität. Balance zwischen Entscheidung von oben und Mitbestimmung der Bürger. „Man darf nicht zu schnell entscheiden, muss die Menschen mitnehmen.“ Nicht schnell? Und der Immobilienwahnsinn?

Da sind die Gewinner. Die Besitzenden. Wie eine 25-Jährige, die in der Szenebar St. Lars erzählt, wie sie vor sechs Jahren von der Oma 80.000 Euro erbte, diese in ein Apartment steckte und nun, zwei Wohnungen später, 800.000 Euro besitzt. Oder der Makler, der in Grünerløkka Studentenbuden verkauft. 34 Quadratmeter ohne Ausblick, das Schlafzimmer so klein, dass gerade ein Bett reinpasst, Schätzwert anderthalb Millionen Kronen, 200.000 Euro. Bei der Besichtigung stehen sich Studenten auf den Füßen. Zuschlag für über zwei Millionen Kronen, also 260.000 Euro.

Und da sind die Verlierer. Die Nichtbesitzer. Ihr Ärger ist das größte Thema der Stadt. Überall springen einem Klagen entgegen. In der Presse, auf dem Markt, in der Tram, in den Bars. Über die Mietpreise. Darüber, dass die jungen Osloer sich keine Wohnungen mehr kaufen können. Und ein Osloer, das ist Tradition, der mietet nicht, der besitzt. Auf Dauer wird die Stadt aus dem Lot geraten. Das weiß auch der Bürgermeister, der am frühen Abend dann doch kurz Zeit hat. Fabian Stang, ein Mann, der Sorgen gekonnt weglächelt. Mietpreise, Klassenzimmer, wachsende Unzufriedenheit? „Wir tun nichts, ohne darüber nachzudenken.“

Fabian Stang zeigt auf ein Gemälde in seinem Büro. „Das kranke Kind“ von Munch. Es zeigt den Tuberkulose-Tod eines Mädchens – Norwegen vor 90 Jahren. „Das ist gar nicht so lange her“, sagt er. In Oslo gehe es derzeit um mehr als Häuser und Schulen. „Wir schaffen eine neue Gesellschaft“, sagt er. „Wissen Sie, das ist die große Aufgabe: eine Gesellschaft, in der die Leute wissen, wie viel Glück sie haben.“ Er muss los. Unten wartet sein Smart. Nur nicht vergessen, wo man herkommt.

Zu spät erkannte Alex Gunia, dass es ein Fehler war, nach Sørenga zu gehen. Ein Neubauprojekt in Bjørvika, dem neuen Kulturviertel an der Oper. Der frühere Pier, nach drei Seiten zum Fjord hin offen, gilt als Filetstück. 800 der teuersten Apartments sollen hier entstehen. Bedingung der Stadt: Die erste Etage der Gebäude am Rande des Quartiers gehört der Kunst und den Bürgern – Musikclubs, Galerien, Kindergärten sollen hier Platz finden. Deswegen war Alex Gunia gekommen. Seit einigen Jahren schon lebt der Musiker aus Köln in Oslo, der Spezialist für elektronische Klänge ist Gastprofessor an der Uni. Wie vielen Kreativen erschien Norwegen ihm als Verheißung, dieses Land, das Kunst fördert wie sonst keines in Europa. Ein tolles Projekt, dachte Alex und schickte eine SMS an die Sørenga-Entwickler. Die waren begeistert: Ein Musikprofessor bei ihnen am Wasser? Sørenga, die Kulturstätte – gutes Verkaufsargument für teure Apartments. „Ich dachte, das kann nicht schiefgehen“, sagt Alex. Das „Osloer Morgenbladet“ schrieb später: „Das konnte nicht gut gehen.“

Die Anwohner Sørengas wollten Alex nämlich nicht. Sie wollten ihre Abende mit einem Glas Rothschild bei einer Einspielung von Schuberts „Forellenquintett“ verbringen. Nicht mit experimentellen Klängen aus der Nachbarschaft. Sie gründeten eine Eigentümergemeinschaft, nahmen sich Anwälte. Und Alex hatte verloren. Die Zeitung „Aftenposten“ schrieb: „Jetzt ist die Krachmusik weg von Sørenga.“ Und die Anwohner haben ein neues Thema: öffentliches Grillen, bis vor Kurzem eine Art Nationalsport. Nun ist es nicht mehr erlaubt. Geruchsbelästigung.

Der Bürgermeister, die neue Generation – viel Arbeit werden sie noch haben in der wunderschönen und mit dem Wandel ein wenig überforderten Stadt.

Der (gekürzte) Text stammt aus dem aktuellen Heft „Geo Special: Norwegen“ – derzeit im Handel für 8,50 Euro