Geografisch ist das Tessin zwar der Tiefpunkt aller Kantone, eine kulinarische Reise verspricht aber umso mehr Höhepunkte – inklusive Ausnahmekoch

Das Tessin verbindet als Reiseziel sämtliche Vorteile Italiens mit denen der Schweiz: wohlgeordnet und lebensfroh zugleich, von mildem Klima verwöhnt und majestätischen Bergen umgeben, tiefenentspannt und doch verlässlich wie ein Schweizer Uhrwerk. Südliche Genussfreude verschmilzt mit schweizerischem Qualitätsempfinden.

Das beginnt schon beim vermeintlich Einfachsten: beim täglichen Brot. Guter erster Stopp einer kulinarischen Landpartie durch das Tessin wäre daher ein Besuch des Ladens von Biobäckermeister Mehltretter in Losone – der Mann heißt wirklich so. „Laden“ ist allerdings eine Übertreibung, in Wirklichkeit steht Signora Mehltretter hinter einem winzigen Verkaufsstand unter buntem Sonnenschirm auf dem Bürgersteig vor der Backstube an der Via Locarno 43. Aus der geöffneten Türe der Panetteria duftet es verführerisch über die Straße, in der Auslage leuchtet ein strohblonder Hefezopf. Schon diese bescheidene Szenerie wirkt verlockender, als Hunderte von Konsumforschern optimierte, perfekt ausgeleuchtete Brotboutiquen in deutschen Supermärkten es könnten. Wer dann noch Mehltretters köstliches Pane Valle Maggia – ohne Zusätze, aus hausgemahlenem Mehl, ewig haltbar – probiert, entwickelt erste Umzugspläne.

Das Tessin ist ein Land der Berge und der Seen, allen voran der Lago Maggiore und der Luganer See. Beim Fischhändler Theodor Wohlgemuth, nur ein paar Hundert Meter weiter die Maggia hoch, lassen sich deren Schätze in schönster Qualität besichtigen: stattliche Lachsforellen, Saiblinge, Felchen, Hechte, Zander. Taufrische bretonische Wolfsbarsche und die unvergleichlichen roten Garnelen von San Remo sind ebenfalls im Angebot. Ein besonderer Genuss ist es, sich ein sauber pariertes Filet von der Lachsforelle in feine Tranchen schneiden zu lassen und anschließend irgendwo entlang der Melezza in der Sonne als Tessiner Sashimi-Picknick zu verspeisen. Ganz ohne Zitrone und sonstige Würze, nur mit etwas Salz und einem Schluck Wein.

Gilt beim Fisch die alte Feinschmecker-Faustregel „besser groß als klein“, verhält es sich beim Gemüse gerade umgekehrt. Wer erleben möchte, über welche Geschmacksfülle eine schlichte Karotte, ein frugales Radieschen, ein weißes Rübchen verfügen kann, der sollte Giorgio Taiana, Biobauer aus Leidenschaft, und seine Tochter an den Markttagen in Lugano besuchen. Oder besser noch: auf seinem kleinen Hof in Davesco-Soragno am Fuße des Monte Boglia. Dort zieht er in Gewächshäusern geschmacksattes Miniaturgemüse für Besseresser. Aber Achtung! Wer auch nur ein einziges Mal seinen winzigen, dunkelgrünen, saftigen Rucola gekostet hat – süßlich-nussig, pfeffrig-würzig –, der ist für jegliches Unkraut gleichen Namens auf ewig verloren.

Damit vor lauter Probieren das Essen nicht zu kurz kommt, ist an dieser Stelle ein kleiner gastronomischer Einschub nötig: Im lauschigen Innenhof des Grotto „al Capon“ in den malerischen Gässchen des Dörfchens Brione im Verzascatal herrscht zum einen der gute Geist einer mütterlichen Damenmannschaft, zum anderen die leider selten gewordene Tugend der kulinarisch-authentischen Traditionspflege: Hier gibt es mürben Rinderschmorbraten in Merlot, butterzarte Kalbshaxe, klassisch gefüllten Kaninchenrücken und ganz ausgezeichnete Kutteln in würziger Tomatensoße! Im Herbst schmücken die Pilze aus den umliegenden Bergwäldern die Speisekarte, zum November gehört die traditionelle „Metzgete“, ganzjährige Publikumslieblinge sind die feinen Stubenküken, Mistkratzerli genannt, und ganz enorme Merängge (Baiser) mit rahmigem Vanilleeis und Sahne. Hinterher sorgt ein feiner Ratafià, der Tessiner Nusslikör aus Grappa, grünen Walnüssen und allerlei Gewürzen, für Ordnung.

Die Mistkratzerli des stolzen Hahnen-Grottos stammen übrigens von der „Terreni alla Maggia“ unten in Ascona. 1930 gegründet, wird hier auf rund 130 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche neben der Geflügelzucht auch noch erfolgreich Acker-, Wein- und Obstbau betrieben. Seit 1997 wird auf der Landzunge zwischen Ascona und Locarno im kiesigen, sandigen Schwemmland der Maggia zudem Risottoreis angebaut, der Riso Nostrano Ticinese der Sorte Loto. Man rühmt sich, einziger Reisproduzent der Schweiz und zugleich nördlichstes Anbaugebiet der Welt zu sein.

Außerdem im Hofladen-Angebot: Pasta, Wein, Honig und Gewürze sowie ein schön runder, dreijähriger Ascona Whisky. Und natürlich Polenta, traditionelle Tessiner Beilage. Wer genug Geduld zum Rühren hat, für den bildet sie zurück im Norden gemeinsam mit etwas weichem Gorgonzola und einem Spiegelei die Grundlage für herrliche Urlaubserinnerungen!

Den Käse zum goldgelben Maisbrei sollte man bei Eros Buratti seeabwärts im piemontesischen, also bereits italienischen Intra einkaufen. Ein Besuch im Tessin ist ohne kleinen kulinarischen Grenzverkehr einfach unvollständig! Am schönsten ist ein Besuch am Sonnabendmorgen bei diesem fanatischen Käseverfeinerer am Westufer des Lago. In seinem Feinkoststadel wirkt die ganze Familie mit, Mamma Carla steht resolut an der Kasse; im engen Schlauch zwischen Weinregalen, Käselaiben, Kühltheken, unterarmdicken Salami, Pastapaketen, Eingemachtem, Türmen aus Schinken und Wurstgirlanden herrscht ein Gedränge und ein Palaver wie in einem libanesischen Souk. Berge perfekt gereiften Käses werden über die Köpfe der Kundschaft in die hinteren Räume weitergereicht. Paradies-Kammern, die niemand bei Tageslicht verlässt, der sich einmal hineingewagt hat.

Auch ein Abstecher nach Lugano, ein Caffè im „Sass“ an der Piazza della Riforma, gehört zu den schönsten sommerlichen Genüssen im Tessin. Die Regina del Ceresio, die Königin des Luganer Sees, leuchtet in südlichem Licht, verlockt zu einem Bummel entlang der sanft geschwungenen Seepromenade, später zu einem Aperitivo bei Sonnenuntergang und anschließend vielleicht einem feinen Teller im Arté al Lago mit spektakulärem Blick auf den See... Nirgendwo verströmt die Schweiz mehr Italianità als hier.

Eine schöne Auswahl an Tessiner Weinen und Spirituosen bietet die Cantina dell’Orso in Ascona. Weitere Spezialitäten gibt es in der Traditions-Confiserie Al Porto in Locarno: luftig-leichte, hübsch verpackte Panettone und Amaretti bianco aus Mandeln – außen knusprig, innen schmelzend-weich. Apropos Schmelz: Als Tessiner Souvenir für Erwachsene übertrifft kaum etwas ein Kistchen Chardonnay von Meinrad C. Perler. Der Ex-Banker der Credit Suisse sattelte vor gut 30 Jahren auf einen anständigen Beruf um und machte sich innerhalb kürzester Zeit als Winzer einen Namen. Sein Weingut „dell’Ör“ oberhalb von Arzo im Mendrisiotto überragt einen Weinberg von elf Hektar, der seit dem 17. Jahrhundert bewirtschaftet wird. Hier – und im kürzlich fertiggestellten Tenimento La Prella ganz in der Nähe – baut Perler eine Vielfalt erstklassiger Tropfen aus: konsequent durchgegorene Weißweine und seidig-geschmeidige Rote.

Zu probieren zum Beispiel bei Rolf Fliegauf im Restaurant Ecco des Hotels Giardino in Ascona. Der Mann ist nicht nur völlig zu Recht der höchstbewertete Koch des Tessin, sondern auch der jüngste Zwei-Sterne-Koch Europas. Bei ihm kann man all die Tessiner Köstlichkeiten in äußerster Verfeinerung erleben. So bodenständig, so leicht und sinnlich wie Fliegauf aufkocht, erlebt man das nur ganz selten. Er gehört zweifellos zu den größten Köchen seiner Generation. Mag das Tessin zwar (in Ermangelung von Viertausendern) geografisch der Tiefpunkt der Schweiz sein – dank seiner erstklassigen Produkte und eines jungen Ausnahmekochs gehört es kulinarisch eindeutig zur absoluten Spitzengruppe der europäischen Genussregionen.