Von Boltenhagen hat womöglich jeder bereits gehört, aber wer kennt schon das Gebiet drum herum, den Klützer Winkel? Entdeckungen an der mecklenburgischen Ostseeküste

Der Klützer Winkel: Sommerfrische, hügeliges Bauernland zwischen Lübeck und Wismar. Marktflecken und Weiler, die wie aus der Zeit gefallen wirken. Störche, die ihre Jungen auf den Dächern alter Katen füttern. Ältere Frauen in der Kittelschürze, die hausgemachte Brombeertorte unter alten Obstbäumen servieren. Kinder, die juchzend in Dorfteiche springen. Stockrosen, die sich am Fachwerk hochranken, üppige Staudengewächse in Bauerngärten. Linden- und Kastanienalleen, die wie grüne Tunnel auf alte Gutshöfe und entlegene Dörfer zulaufen. Und eine Steilküste, mindestens so poetisch wie Caspar David Friedrichs Kreidefelsen auf Rügen.

Mittendrin die Kleinstadt Klütz: viel Kopfsteinpflaster, noch mehr Kunst und Kultur. Ein Literaturhaus, das vor allem dem Schriftsteller Uwe Johnson gewidmet ist, dem „Dichter der beiden Deutschland“, der diesen Ort vermutlich zum Vorbild für „Jerichow“ genommen hat, den fiktiven Schauplatz seines Romans „Jahrestage“. Um die Ecke ein vielseitiges Multikulti-Haus, die Alte Molkerei, mit mindestens einem Dutzend verschiedener Künstler und Handwerker. Und, etwas außerhalb, Schloss Bothmer, das wohl schönste barocke Herrenhaus des Nordens.

Schließlich Boltenhagen: geteilt in das traditionsreiche Ostseebad und einen neuen Teil aus der Retorte, mit Marina, Hotels und großen Apartment-Anlagen. Wer den Ort bieder nennt, war wohl lange nicht dort. Und wer Pausen braucht vom organisierten Strand- und Kurgewimmel, von Volleyball-Turnieren und anderen „Events“, radelt durch Feld und Wald nach Westen, den traumhaften Steilufern entgegen. Oder nach Osten, an die Wohlenberger Wiek, wo sich auf einer Mole aus DDR-Zeiten die Angler und am Naturstrand die Individualisten treffen.

Die Stadt, die dem Winkel ihren Namen gab, könnte eine kleine Flucht für Nostalgiker sein, wenn nicht eine viel befahrene Landstraße durch den Ort führen würde. Aber Schloss, Literaturhaus und Alte Molkerei lohnen allemal das intensive Hinsehen. Vielleicht auch bald der frisch renovierte Bahnhof aus dem Jahre 1905, von dem, wenn alles gut geht, im nächsten Frühjahr wieder Dampf- und Dieselzüge durch die Landschaft schnaufen, zunächst nur bis Reppenhagen, sechs Kilometer auf 600-mm-Spur. 90 Jahre lang war der sogenannte „Kaffeebrenner“ zwischen Klütz und Grevesmühlen unterwegs. Der Name, nichts Genaues weiß man, könnte von einer Malzfabrik stammen, die einst den Rohstoff für Muckefuck lieferte.

Klar dagegen ist, dass Klütz, 3000 Einwohner in elf Ortsteilen, Literaturfreunde aus ganz Deutschland anzieht, seit das Uwe-Johnson-Haus vor sieben Jahren eröffnet wurde. Ein Juwel in der Provinz, ein Hort der Begegnung von Spurensuchern, Lesern alter Schule und Urlaubern, die in diesem renovierten Getreidespeicher auf deutsche Nachkriegsgeschichte, große Dichtkunst und spannende Architektur stoßen. Die alten Schütten sind integriert, ein Fahrstuhl wurde als „Bücherturm“ konstruiert, eine Kinderbibliothek mit Schmökerecke geschickt in ein Zwischengeschoss eingefügt. Wer das Glück hat, von Franziska Scharsich durchs Haus geführt zu werden, vergisst leicht Zeit und Strand.

Die promovierte Literaturwissenschaftlerin hat das Konzept dieses Hauses von Anfang an mitgestaltet. Immer noch sucht sie unermüdlich nach Hinweisen, warum Uwe Johnson, dessen verfilmter Romanzyklus „Jahrestage“ im Jahre 2000 ein sensationeller Erfolg im Fernsehen war, so viel von Klütz in sein „Jerichow“ verlegt hat, wo er doch angeblich nie hier gewesen sein soll: „Er muss Klütz gekannt haben“, sagt Franziska Scharsich.

Noch sicherer ist, dass die kleine Stadt im nächsten Jahr, wenn an Uwe Johnsons 80. Geburtstag und an seinen 30. Todestag erinnert wird, mehr als je zuvor in den Brennpunkt des allgemeinen Kulturinteresses rücken wird. Dann werden, nur ein paar Schritte entfernt, auch alle Innenarbeiten in der Alten Molkerei abgeschlossen sein, einem sympathisch-alternativen Kulturzentrum. Schon jetzt werkeln und stellen dort Goldschmiede, Textil- Holz- und Metallkünstler, Maler und Grafiker aus.

Spiritus Rector der ehemaligen Milchfabrik, die nach 100-jährigem Betrieb beinahe abgerissen und durch einen Lidl-Markt ersetzt worden wäre, ist Johannes Volk. Er freut sich, dass Klütz, wie er es ausdrückt, „rechtzeitig einen charmanten Weg eingeschlagen hat“. Im nächsten Jahr wird es in der Molkerei zusätzlich Most und Obstler aus eigener Brennerei geben. Volks Lebenspartnerin Ana Sojor, Malerin und Multitalent aus Spanien, hat übrigens den Flamenco nach Klütz gebracht, mit einem Erfolg, der nur Optimisten wie Volk und Sojor nicht überrascht.

Sie, die beide lange in der Schanze und anderen Hamburger Szenevierteln gelebt haben, fühlen sich in ihrem Winkel „endlich angekommen“. Um eine Gegend, die bis vor Kurzem noch im Abseits lag, wach zu küssen, bedarf es Idealisten wie diese beiden, Visionären wie Franziska Scharsich aus dem Literaturhaus oder auch des Kleinbahn-Initiators Ludger Guttwein und seiner Helferin vor Ort, Eva Eckert. Und Frauen wie Wiebke Schöne von Schloss Bothmer, die den Titel einer Kastellanin trägt, einer Burgverwalterin. Noch ist zwar das mächtige Herrenhaus, im frühen 18. Jahrhundert nach englischem Vorbild erbaut, eingerüstet. Seit fünf Jahren wird es von Grund auf saniert. „Aber schon im nächsten Sommer“, versichert die Kastellanin, auch so eine mit Herzblut und viel Zuversicht, „werden fast alle Teile des Haupthauses wieder zugänglich sein.“

Unbeeinflusst von den Bauarbeiten verlocken schon jetzt die Lindenalleen und der Barockgarten zu gedanklichen Abstechern in die Vergangenheit. Seit dem Mittelalter haben die von Bothmers Militärs und Minister, Gelehrte und Diplomaten gestellt. Der Schlosspark wird auch in diesem Jahr märchenhafte Kulisse eines Konzerts im Rahmen der MV-Festspiele sein. Justus Frantz will an diesem Sonnabend bei seinen Zuhörern „Sehnsucht nach Italien“ wecken, mit seiner Musik und einem möglicherweise mediterran gewürzten Picknick.

Noch ein Abstecher zum Schloss Kalkhorst, wenige Kilometer entfernt, zu den Mammutbäumen im dortigen Schlosspark. Oder in die Storchendörfer Bössow und Welzin, in denen es aussieht wie im 60er-Jahre-Film „Die Heiden von Kummerow“. Noch ein Bummel über die Seebrücke in Boltenhagen und eine Wanderung zum Swin-Golfplatz hoch über der Ostsee, wo rustikal und ohne Etikette eingelocht wird. Und an der Wohlenberger Wiek noch rasch zwei geräucherte Makrelen in den Kofferraum gepackt, eingewickelt von Klaus-Dieter Tuma, der keinen Fisch verkauft, ohne nicht wenigstens eine schnurrige Geschichte aus 30 Jahren Hochseefischerei obendrauf zu geben.