Lichtverhältnisse und Farbenspiel waren der Ursprung des Impressionismus, dessen großer Vertreter Claude Monet dem Landstrich treu blieb

Die Kathedrale von Rouen glänzt im Regen. Bläulich schimmernd, frisch wie gewaschen, so hat Claude Monet sie um 1892 gemalt, immer wieder. Vorhin noch hatte ein grauer Morgen die Hauptstadt der Normandie fast verhüllt; wie eine Folie lag diese Stimmung über dem prächtigen und mächtigen Gotteshaus. Auch hinter einem solchen Schleier aus Dunst und Tristesse hatte Monet Notre-Dame de Rouen auf die Leinwand gebracht. Und jetzt, keine halbe Stunde später, scheint die Sonne. Die große Kirche leuchtet wieder, als hätte der liebe Gott gerade persönlich den Vorhang hochgezogen.

Wir schauen durchs Fenster eines Fachwerkhauses von gegenüber auf die Fassade und den Albanturm dieser Kathedrale, die als eine der schönsten und bedeutendsten Europas gilt. Vor uns auf dem Tisch: ein Kasten voller Farben und ein großes weißes Stück Papier, an der Seite eine Staffelei mit einem Bild, das Monet gemalt hat, eines aus einer Serie, die er dieser Kathedrale gewidmet hat, in immer anderem Licht, in wechselnden Stimmungen, ganz so, wie wir sie heute innerhalb weniger Stunden erleben.

Unterwegs in der Normandie, unterwegs in einem Land, das nicht selten vier Jahreszeiten an einem Tag bietet. Eben noch zeigt es sich grau und rau, dann wieder, nur einmal um die Ecke herum, über alle Maßen voll üppiger Farben. So ist das immer, in jedem Sommer. In diesem Jahr aber zelebriert die historisch, landschaftlich und kulinarisch so reiche Provinz im Norden Frankreichs ein Festival, das alle Sinne anspricht. Noch bis Ende September feiert die Region den Impressionismus, jene Stilrichtung, die hier in der Normandie entstand und die uns eine Bilderfülle des Lebens außerhalb der Ateliers geschenkt hat, kraftvoll, eindrücklich und nur von der Atmosphäre des Augenblicks bestimmt.

Unterwegs also auf den Spuren der großen Maler, die der Welt diesen Blütenrausch in Bildern, diese sanfte Orgie in Farben geschenkt haben. Unterwegs vor allem an den Küsten und den Orten des Claude Monet, der 1872 mit dem Bild eines Sonnenaufgangs, das wenig später und gegen seinen Willen „Impression“ genannt wurde, den Begriff für diese Kunstform sozusagen unfreiwillig geprägt hat. Im Garten von Giverny, seinem wohl schönsten Atelier, lassen wir uns gleich zu Beginn unserer kunst- und genussvollen Rundreise verzaubern: von der Vielfalt der Blumen, dem Duft der Blüten im Obstgarten, dem Anblick der berühmten Japanischen Brücke und der noch berühmteren Seerosen im asiatisch angehauchten Bereich.

Seit zwei Jahren ist James Priest für diesen Garten verantwortlich, zu dem jährlich 600.000 Kunst- und Blumenliebhaber aus aller Welt pilgern. Der kauzige Brite, dessen Humor vermutlich sogar den Pflanzen guttut, legt Wert auf den impressionistischen Charakter der Anlage: „Es geht uns nicht um botanische Gründlichkeit, hier trägt kein Strauch, kein Baum ein Namensschild. Uns sind vielmehr Farbgebung und Atmosphäre, und zwar passend zur jeweiligen Jahreszeit, so wichtig, wie sie seinerzeit dem Maler Monet wichtig gewesen sind.“

Hoch über dem Garten, in Monets Haus, in dem er 43 Jahre lang gewohnt hat, drängen sich mit uns unzählige Besucher über enge Stiegen und durchs Wohnzimmer bis in in die Küche. Dort staunen wir über die Genussfreude des Künstlers, hören, dass er Kochrezepte hinterlassen hat, kulinarische Kompositionen, die wir schon bald am Herd und bei Tisch nachempfinden werden.

Kurz darauf werden wir, realistischer, als uns lieb sein kann, erleben, warum Monet das Meer vor der Alabasterküste aufgewühlt vom Sturm gemalt hat. Noch ein paar Tage später fühlen wir uns in Honfleur in die Zeit zurückversetzt, als sich dort Monet, Pissarro, Renoir und Cézanne zum Gedankenaustausch trafen, gemeinsam aßen, tranken und natürlich malten. Und ausgerechnet wir sollen ihnen und vor allem Monet jetzt nacheifern, vis-à-vis der Kathedrale von Rouen, was für ein vermessener Versuch. Aber Edith Molet Oghia, Malerin und Bildhauerin, die den Kursus leitet, lässt keine Zweifel zu: „Bringen Sie die Farben aufs Papier, die Sie mögen. Malen Sie die Kathedrale, wie Sie sie sehen. Malen Sie nicht Monet ab, geben Sie Ihre Eindrücke wieder, Ihre ganz persönlichen Impressionen...“ Mit einem praktischen Rat überlässt sie uns dem weißen Papier: „…bloß nicht so heftig pinseln, tupfen Sie lieber, tupfen Sie mit Gefühl...“

Wir waren, von Paris kommend, in Giverny, einem Dorf im äußersten Südosten der Normandie, in Monets Reich der Sinne eingetaucht. Man muss in diesem kleinen Ort, der tagsüber von Bussen und Gruppen erdrückt wird, mindestens einmal übernachten, am stilvollsten im „Jardin des Plumes“, einer Herberge mit kreativem Restaurant, ganz neu in eine alte Villa eingezogen. So erst, ganz allein beim Rundgang am frühen Morgen oder am späten Nachmittag, wird man verstehen, warum Monet 40 Jahre lang immer wieder in sein Refugium zurückgekehrt ist.

In einem anderen Dorf, auf dem Weg nach Rouen, treffen wir Régine Boidin. Sie kocht – nicht nur, aber besonders gern – Monets Rezepte nach, in Le Havre und in Sainte-Adresse, wo er auch gemalt und getafelt hat. Manchmal kocht sie auch in ihrem Haus, zu dem ein Garten gehört, der Monet gefallen hätte. Dort schnippeln und köcheln wir über Stunden, hin und wieder fröhlich am Calvados nippend, der zu vielen Gerichten in der Normandie gehört, und verspeisen genießerisch die Kreationen des Meisters.

Monet hat oft und gern die Alabasterküste bei Fécamp und das Steilufer von Étretat gemalt. Und das Meer, zum Beispiel an einem stürmischen Tag im Sommer 1873. Genau so erleben wir es 140 Jahre später. Eigentlich wollten wir uns, nostalgisch-korrekt, mit einem alten Segler dem Felsentor Manneport nähern. Aber Asterix, wie alle den Kapitän des historischen Kutters nennen, muss bei dem Wetter einsehen, dass alles andere als Umkehr Leichtsinn wäre. Also takelten wir ab und steuerten Étretat und die spektakulären Felsen auf dem Landweg an.

Schließlich Honfleur, für uns der schönste Küstenort auf der Route der Impressionisten, ein Hafen wie gemalt. Immer tiefer geraten wir beim ersten Bummel ins Mittelalter, verlieren uns in den Gassen, staunen über schräge und schöne Kunst in Läden, die man in Paris oder London vermutlich hidden galleries nennen würde. Irgendwann landen wir auf der Place Sainte Catherine, trinken dort einen Cidre gegen den ersten Durst, lassen uns Camembert und knuspriges Brot schmecken und stoßen später, in einem der vielen Cafés rund um den Binnenhafen, mit einem Glas Rotwein auf Monet an – und auf die Künstler, die um uns herum im Akkord arbeiten, Typen, wie man sie vom Montparnasse in Paris kennt.

Honfleur also, ein Ort, der glücklich macht, genau wie Giverny oder wie Caen mit seiner Altstadt und seiner mächtigen Abtei und wie Rouen mit seinen Fachwerkhäusern und der Kathedrale, die sich jetzt im warmen Nachmittagslicht sonnt und an der wir uns „abarbeiten“ durften. Gegenüber, in Monets altem Atelier, lobt Edith die Hobby-Künstler, die fleißig getupft und ein bisschen auch gepinselt haben. Einen nach dem anderen würdigt sie und blickt in die stolzen Gesichter: „... c’est magnifique ... wunderbar, ganz großartig ... das nenne ich impressionistisch!“