Am Strand von Sylt finden Spaziergänger allerlei schöne Steine. Ein Juwelier macht daraus originelle Schmuckstücke

„Zeig mal her, was du da gefunden hast!“ Weiße, braune, grüne Stücke, oft nur fingernagelgroß, klappern in der Tasche. Sanft gerundet, sanfte Farben. Eigentlich ist es Abfall; in Pastell und wie mit Weichzeichner gemalt. Seeglas, auch Strand- oder Meerglas genannt: Glasscherben, die vor Jahrzehnten oder gar mehr als 100 Jahren als Flasche oder Flakon, als Glasscheibe oder Geschirr ins Meer gefallen sind und von Wind und Wellen zu eben diesen schmucken Stücken gerundet und mattiert wurden. Sucht ihr mal Bernstein, ich finde Seeglas. Mit viel Glück ist es sogar wertvoller.

Seeglas ist etwas Besonderes und eine schöne Erinnerung an das Meer – und für meine vor vielleicht 100 Jahren ins Meer gefallenen Stücke ist die Reise noch nicht zu Ende. Nachdem ich ein paar der schönsten Stücke in Papier gewickelt habe, breche ich am folgenden Tag in den Inselosten auf. Dort, in einem schmucken Reetdachhaus bei Morsum, liegt die Manufaktur von Edda und Jonas Raspé. Die beiden Goldschmiede – Mutter und Sohn – fertigen aus Schönem Außergewöhnliches; auch aus Dingen vom Strand. Edda Raspé zum Beispiel sucht Granite, lässt sie sägen und schleifen, um daraus einzigartige Stücke zu fertigen. In den Vitrinen liegen diese; gern erarbeiten sie auch ein Stück zusammen mit den Kunden.

Jonas Raspé findet die Idee, aus Seeglas ein Schmuckstück zu machen, außergewöhnlich und interessant: „Ich erarbeite gern persönliche Schmuckstücke, die einen einmaligen Bezug zum Träger haben. Häufig kommen Kunden mit Fundstücken wie Steinen, Bernstein oder eben auch Seeglas, die für sie Erinnerung an einen schönen Tag auf Sylt sind oder in dem sie etwas Geheimnisvolles sehen.“ Edda und Jonas Raspé sammeln das ganze Jahr Steine an der Küste von Sylt, die schönsten dieser Fundstücke schleifen sie wie Edelsteine und verarbeiten diese dann mit Gold und Silber zu individuellen Schmuckstücken. „So entstehen Ringe und Anhänger, Colliers und Ohrschmuck, teilweise in Kombination mit anderen klassischen Edelsteinen. Diese Schmuckstücke haben einen besonderen Bezug zur Insel und zum Meer“, sagt Jonas und legt ein Stück grünes Seeglas zurück auf den Tisch; neben Goldblech und geschliffenem Topas.

Der 34-jährige Goldschmiedemeister hat inzwischen mit Bleistift und Papier einen Entwurf gezeichnet: Das Grundmaterial für den Armreif ist Silber – das hält den Preis im Rahmen. „Die Kosten für eine individuelle Einzelanfertigung richten sich nach dem verwendeten Material und dem Arbeitsaufwand“, erklärt Jonas. Das Verarbeiten von Seeglas in der Schmuckmanufaktur hat nichts mit Flohmarktschick oder simplem Löcherbohren zu tun; für einfache Stücke kalkuliert Jonas Raspé mindestens einen halben Arbeitstag. Für einen Ring oder einen einfachen Armreif sollte man mit Preisen ab 300 Euro rechnen.

„Seeglas stammt ja aus dem Meer“, sagt Meister Raspé, „also habe ich mich für weitere Motive aus dem Meer entschieden!“ Da liegt auf dem Tablett – auf den skizzierten Entwurf legt er die einzelnen Elemente – zum Beispiel ein kleiner Fisch aus Silber, nur wenige Millimeter groß. Dann zeigt Jonas Raspé den Abdruck eines Tintenfischkörpers, den er in Gips gedrückt hat – auch dies nur daumennagelgroß. In diese fein gemaserte Negativform gießt er Gold. Heraus kommt ein im wahren Wortsinn einmaliges, charaktervolles Schmuckstück. Aus meinen mitgebrachten Schätzen vom Strand sucht Jonas Raspé ein trapezförmiges grünes Stück heraus. „Seeglas ist allerdings im Vergleich zu Steinen sehr fragil. Bereits bei der Verarbeitung ist höchste Sorgfalt geboten, es kann schnell zu Splitterungen oder Bruchstellen kommen“, sagt Jonas und biegt vorsichtig ein Stück Edelmetall drum herum. Das Glas wird gefasst, und zusammen mit den Silberarbeiten entsteht ein Armband, das es nur dieses eine Mal gibt. Aber auch eines, auf das man aufpassen muss – zwar ist Seeglas härter als zum Beispiel Koralle, Perlen oder Bernstein, aber sehr spröde und damit empfindlich gegen Stoß, und die feine Oberfläche schrammt schnell ab.

„Ich nehme, was sich anbietet, ich nehme, was ich sehe. Seeglas ist hierbei eine interessante Mischung zwischen Menschengemachtem und Natürlichem, weil es einen Prozess von einem Gegenstand aus Menschenhand zu einem von der Natur geschliffenen Fundstück durchlaufen hat“, erklärt Edda Raspé. Es wurde fortgeworfen, kehrte zurück in den ewigen Kreislauf der Natur; wurde von Zeit und Raum transformiert. Und wieder ein Teil der Natur. Bis es zurückkehrt.