Die beeindruckende Buchhandlung El Ateneo Grand Splendid in Buenos Aires war einst Theater, Kino und Plattenfirma

Hoch oben, 20 Meter über den Bücherregalen, schweben lächelnd Engel. Frohlocken sie? Oder machen sie sich über die Menschen unter ihnen lustig, die ihre Nasen in gedruckte Werke stecken und ihre Köpfe neigen, um Buchrücken zu entziffern? Die Engel sind Teil eines Gemäldes von Nazareno Orlandi, das die Kuppel der größten und stilvollsten Buchhandlung Südamerikas ausfüllt. „El Ateneo Grand Splendid“ heißt das Geschäft in Buenos Aires, dessen Hauptraum in den vergangenen 110 Jahren schon mehrfach Geschichte geschrieben hat. Seit Herbst 2000 werden an der Avenida Santa Fe im Stadtteil Recoleta, Hausnummer 1860, Bücher verkauft. Auf 2000 Quadratmetern sind 200.000 Bände im Angebot: aktuelle Belletristik, Klassiker, Psychologie-, Soziologie-, Architektur- und Computerfachliteratur. Und die unvermeidlichen Kochbücher, auch in Argentinien ein Umsatzgarant.

„Das ist doch nicht zu fassen!“, flüstert ein Tourist aus New York seiner Frau zu, nachdem beide das Foyer des Ladens durchquert haben und nun in einem alten Theater stehen. Eigentlich sind sie wegen des Tangos nach Buenos Aires gekommen. Doch jetzt zieht sie die Buchhandlung in ihren Bann. Die Blicke der Besucher wandern von dem dunkelblauen Teppichboden zu den Marmorsäulen, den Stuckverzierungen, den aus Holz geschnitzten Frauenfiguren, der Kuppel mit den Engeln. Die überwiegend im Original belassene Einrichtung lässt sie staunen und innehalten. Es scheint ein geradezu heiliger Ort zu sein, dieser Literatur-Palast. Er versetzt einen zurück ins Kulturleben der 1920er-Jahre, als sich wohlhabende Argentinier von ihren Kutschern und Chauffeuren vor dem Eingang absetzen ließen.

Am Ende des Saales fällt ein burgunderroter Vorhang auf die ehemalige Bühne, die heute als Café mit 150 Sitzplätzen genutzt wird. Rechts und links davon führen Granit-Balkone auf vier Ebenen um den nahezu runden Raum. Mit goldenen Geländern und dunklen Samtbezügen bestückt, wölben sie sich nach vorn in den Saal. 250 Lampen sind unten an den Balkonen angebracht – sie bringen noch mehr Glanz in den Buchladen, der seinen Kunden als schönster der Welt gilt. Die englische Zeitung „The Guardian“ bestätigte in einem internationalen Vergleich, dass es auf Erden kaum einen stilvolleren Ort zum Bücherkauf gibt.

Als am 19. Juni 1903 das „Teatro Norte“ als Spielstätte für aktuelle Theaterproduktionen eröffnet wurde, staunten die 900 geladenen Besucher auch über die Deckenmalerei von Nazareno Orlandi. 16 Jahre nach dem gelungenen Start, nach Tausenden Aufführungen, kaufte Max Glücksmann das Haus. Der österreichische Geschäftsmann ließ üppige Balkonverzierungen und luxuriöse Kronleuchter anbringen und nannte das Haus ab 1919 „The Splendid Theater“. Sogar Carlos Gardel, Argentiniens Tango-Weltstar, begeisterte in den 20er-Jahren dort sein Publikum. 1924 gründete Glücksmann den Hörfunksender Radio Splendid und eine Plattenfirma. Das Geschäft lief gut – allerdings nur wenige Jahre bis zur überraschenden Pleite.

Schließt ein Theater, wird oft behauptet, dass der letzte Vorhang gefallen sei. Doch im Falle des Splendid blieb der Vorhang erhalten. Er hob sich sogar wieder und gab den Blick frei für eine riesige Kinoleinwand. Ab 1929 wurden an der Avenida Santa Fe die ersten Tonfilme Argentiniens gezeigt und anschließend mehr als 30 Jahre lang internationale Produktionen. 1964 gab es ein kurzes Intermezzo als Theater- und Konzerthaus; doch nach nur sechs Jahren verwandelte sich das Grand Splendid abermals in ein Kino. Bis zum März 2000, als nach der Vorstellung des Oscar-prämierten Films „American Beauty“ der Vorhang wieder einmal eine Ära beendete. Der nächste große Wandel stand bevor. Die Ilhsa Group, eine argentinische Buchhandelskette, steckte drei Millionen Pesos (damals rund 2,5 Millionen US-Dollar) in den Umbau und machte aus dem Theater eine Buchhandlung. Keine austauschbar designte Filiale, sondern ein Schmuckstück, einen stilvollen Rückzugsort. Mit Erfolg: Seit der Neueröffnung vor zwölf Jahren kamen 14 Millionen Besucher. Die librería (spanisch für Buchhandlung) wird in nahezu jedem Reiseführer über Buenos Aires empfohlen.

In zwei schwarzen Ledersesseln der untersten Loge sitzen Sabina und Marcelo, Studenten der Literaturwissenschaft. Vor ihnen liegt ein Stapel Fachbücher. „Diese Ausgaben gibt es zwar auch in der Uni-Bibliothek“ sagt Sabina, „aber hier ist es viel entspannter“. Auch der ältere Herr im grauen Dreiteiler, der neben ihnen sitzt, ist Stammgast. Wie in Zeitlupe blättert er Seite um Seite eines Romans des argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges um.

Im Café sitzen US-Amerikaner, die Huhn Mailänder Art, Ravioli und Lachs verzehren. Spanier, die an einem Café con leche nippen. Brasilianer, die sich Tía Marías bestellen. Und Argentinier, die sich die landestypischen Empanadas (gefüllte Teigtaschen) und Medialunas (Croissants und Gebäck) servieren lassen. Dort, wo die Gäste Platz genommen haben, treten regelmäßig Autoren auf. Paul Auster war bereits da, ebenso Mario Vargas Llosa und viele andere. Der Vorhang, der schon so oft fiel und sich wieder hob, bewegt sich also nach wie vor. Vielleicht ist es ja diese Form der Unterhaltung, die die Engel hoch oben in der Kuppel so vergnügt aussehen lässt.