Die Schweiz kann auch anders als nur gemütlich. Rasante Abfahrten mit dem Bike und klettern bis zur Höhenangst – in Flims sorgen die Berge für Bewegung

Auf 1600 Metern gibt es Fragen, die man einfach nicht stellen sollte, zum Beispiel: „Was passiert, wenn die Karabiner nun versagen und sich plötzlich öffnen?“ „Platsch!“, antwortet Alex Eberhöfer. Der Kletterführer lacht, während ich mich krampfhaft an den Berg kralle. Keine Sorge, beruhigt Alex, wir hätten es hier mit einem redundanten Sicherheitssystem zu tun. Heißt: Wenn ein Element versagt, gibt es immer noch ein zweites, das den Sturz verhindern kann. Als Börsenmakler würde mich dieses System beruhigen; als Anfänger im ältesten Felsenpfad der Schweiz sehe ich nur den Abgrund und meine zitternden Knie. Der Pinut (rätoromanisch für „kleines Tännchen“) ist technisch keine zu große Herausforderung; durch die schmalen Eisenleitern, auf denen man sich bewegt und die jederzeit luftige Tiefblicke erlauben, jedoch ein echter Drahtseilakt für die Nerven. „Passt besonders bei den scheinbar leichten Passagen auf“, mahnt Alex, da dort die Konzentration zu schnell nachlasse. Mir ist bislang keine einzige leichte Passage aufgefallen.

Doch ohne Risiko kein Vergnügen. Unter diesem Gesichtspunkt befinde ich mich auf dem vergnüglichsten Klettersteig, den die Alpen zu bieten haben. Er führt von Fidaz auf das Plateau des Flimsersteins über drei fast senkrechte Felsstufen; davor und dazwischen liegen sehr steile Anstiege durch den Wald. 27 Treppen mit insgesamt 900 Stufen sind zu überwinden. Wer wenig Sport macht, sollte hier nicht damit beginnen. Einmal in die Wand geklettert, gibt es kein Zurück. The only way is up!

Der Pinut wurde von einem Mann geschaffen, der entweder extrem stark oder verrückt oder beides gewesen sein muss: Christian Meiler. Anfang des 19.Jahrhunderts hatte der Flimser Kaufmann die Idee, die Steilwand mit Metalltreppen begehbar zu machen. Er glaubte, dass die Touristen nicht nur Wanderungen und Bootsfahrten unternehmen wollten, sondern auch nach Abenteuer suchten. Doch ein Visionär hat’s schwer. Die gewichtigen Treppen, Tritte und Geländer musste er höchstpersönlich auf den Berg schleppen und in schwindelerregender Höhe in dem Felsen verankern. Sein einziger Helfer war ein Italiener, der jedoch 1914 zurück in seine Heimat musste; und der Erste Weltkrieg beendete Meilers Traum vom Touristenboom.

Genutzt wurde der Steig danach nur von erfahrenen Bergsteigern und heimischen Jägern, bis sich die Flimser Gemeinde dazu entschloss, den Pinut zu sanieren und ihn 2007 wieder eröffnete. Gut 100 Jahre nach der Idee Meilers hängen hier nun also endlich Touristen in den Seilen und erleben Sonderbares: Während die körperliche Anstrengung auf dem gut dreistündigen Aufstieg größer und größer wird, lässt die Angst immer weiter nach und verwandelt sich oben auf knapp 2000 Meter angekommen in einen reinen Freudentaumel. Auf der Spitze fühlt man sich genauso.

Am nächsten Tag geht der Adrenalinkick weiter. Bike-Profi Marc Woodli setzt mich aufs Fahrrad. Mit meinem gediegenen Hollandrad zu Hause hat diese Rennmaschine jedoch nichts zu tun. Sie sieht aus wie ein getuntes BMX, ist gefederter als jede Matratze und ermöglicht es, über Stock und Stein zu brettern – und zwar krass bergab. „Steil ist geil!“, sagt Marc und klopft mir ermutigend auf den Helm. Der Rest meines Körpers wurde ebenfalls komplett verpackt, sodass ich aussehe wie ein zu klein geratener Football-Spieler. Bei der Fahrt von der Talstation Flims hoch zur Bergstation Naraus stelle ich fest, dass der Look Eindruck macht auf die Wanderer, die neben mir im Lift sitzen. „Du bist ja mutig!“, sagt einer. „Nein“, antworte ich, „nur meine Hülle.“

Auf 1800 Metern befinden wir uns schließlich am Start des TREK Runcatrails, der mit seinen sechs Kilometern als längster Flow Country Trail Europas ausgezeichnet wurde. Bei einem Flow Country Trail reiht sich eine Kurve an die andere, wobei man über verschiedene Hindernisse rollt und im besten Fall in eine Art Flow gerät. Also eine Mischung aus Achterbahnfahrt und Hürdenlauf. Bike-Anfänger dürfen auf der sogenannten „Chicken-Lane“ die Hindernisse umrollen, die ihnen zu schwierig erscheinen. „Echte Freestyler können hier aber auch mit Speed über die Jumps jagen,“ sagt Marc. Ich lerne noch viele weitere englische Wörter wie zum Beispiel Skill Area (dort übt man), Northshore-, Dirt- und Freeride- Elemente (Hindernisse), Pumptrack (Schwung durch Gewichtsverlagerung), Wall Rides (Steilwände), Drops (dort springt man runter) oder Kicker (Schanzen). Mein Wortschatz entwickelt sich in puncto Coolness deutlich weiter, was leider keinerlei Rückschlüsse auf meine Person zur Folge hat. „Keine Angst“, sagt Marc. „Das wichtigste ist, dass du immer zwei Finger auf den Bremsen hast und nach vorne schaust, nie auf den Weg unter dir!“ Na gut. Die vielen Steine und Wurzeln will ich ohnehin nicht wahrhaben, und in meiner modernen Ritterrüstung kann mir eigentlich nichts passieren. Schon geht es bergab. Teilweise sind wir so schnell, dass die Murmeltiere keine Zeit mehr haben, sich zu verstecken. Ein paar Anfänger sehe ich stürzen, aber jeder steht schnell wieder auf – der Flow zieht alle in seinen Bann. Angeblich könnten wir hier sogar bei Regen runterbrettern, da alle Holzelemente mit einer speziellen Sandfarbe gestrichen wurden, die ihnen noch mehr Grip verleiht, also bei Nässe nicht so rutschig sind.

Die Gemeinde Flims hat einiges investiert, um nicht nur im Winter für Touristen attraktiv zu sein und möchte neben Familien vor allem Junge und Junggebliebene ansprechen. Für sie gibt es 330 Kilometer markierte Mountainbike-Routen in unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden. Graubünden ist der einzige Schweizer Kanton, der Radfahren sogar auf Wanderwegen erlaubt. „Biken ist Lifestyle“ lautet das Motto, und wem das alpine Hoch und Runter zu anstrengend ist, der steigt einfach auf ein Elektrorad. „So bekommen auch weniger fitte Besucher die Möglichkeit, entspannt fahren zu können. E-Bikes machen die Berge flach“, sagt Marc. Außerdem kann man sie ganz ohne Schutzausrüstung besteigen.

Am Abend zähle ich stolz meine blauen Flecken. Es sind Dokumente der Überwindung und gleichzeitig eine Eintrittskarte: Willkommen im Club der Kurzzeithelden.