Wälder, Alleen und mehr als 2000 Seen: Die herbe Landschaft im Nordosten Polens geht Besuchern zu Herzen. Ideal ist es, per Rad oder mit dem Schiff zu reisen.

Masuren – allein der Klang dieses Namens reicht, um Sehnsüchte zu wecken. Ein seltsamer Zauber geht von dieser schwermütigen Landschaft aus, der jeden erfasst, der zum ersten Mal ins „Land der dunklen Wälder und kristallnen Seen“ kommt, so wie die meisten aus unserer bunt gemischten Gruppe: Berliner, Hamburger, Bremer, Franken, Sachsen, Rheinländer, zwei Potsdamer Mädels, eine lustige Witwe aus Schwaben. Einen Bezug zum alten Ostpreußen hat kaum jemand mehr. „Die Heimwehtouristen sterben langsam aus“, sagt Andrzej.

An ihre Stelle rücken nun die Besucher, die Deutschlands einst östlichste Provinz allenfalls aus Arno Surminskis Romanen oder den Erinnerungen einer Marion Gräfin Dönhoff kennen. Der Umgang mit dem sensiblen Thema Flucht und Vertreibung, deutscher Vergangenheit und polnischer Gegenwart ist unbefangener geworden. Das zeigt sich schon allein darin, dass Andrzej und wir nach einer Woche munter die deutschen und polnischen Ortsnamen durcheinanderwirbeln, wie es uns gefällt – vorausgesetzt, die Aussprache der polnischen ist nicht zu kompliziert. Und so wird aus Pisz Johannisburg und dann wieder Pisz, Rhein ist Ryn, und Olsztyn wechselt beliebig oft mit Allenstein. Der Pole Andrzej kokettiert mit dem breiten ostpreußischen Dialekt, sagt zu den Frauen Marjellchen oder Madamchen und spricht irgendwann Bernd, den Bremer Pfarrer, nur noch mit Pastorchen an.

Bei der Namenswahl unseres Schiffes gibt man sich international – ganz ohne zungenbrecherische Zischlaute: Die „Classic Lady“ ist ein schlanker weißer Dampfer, ein schwimmendes, komfortables Hotel, auf dem wir übernachten, jeden Morgen ein deftiges Frühstück und abends ein exzellentes Drei-Gänge-Menü einnehmen.

Damit aus den täglichen Radausflügen keine strapaziösen Gewalttouren werden, schippert die Lady kreuz und quer über die Masurische Seenplatte zu den Ausgangspunkten unserer Exkursionen – vom Radlerstützpunkt Piasken (poln. Piaski) am lang gestreckten Beldahnsee (Jezioro Beldany) im Süden, über die Kleinstadt Nikolaiken (Mikolajki) zwischen Talter Gewässer (Jezioro Talty) und Nikolaiker See (Jezioro Mikolajskie) bis hinauf in den Norden nach Lötzen (Gizycko) mit den imposanten, backsteinernen Wällen seiner Festung Boyen am Löwentinsee, dem Jezioro Niegocin. So wie tagsüber auf dem Sattel, sind wir auch abends an Bord fast auf Tuchfühlung mit der Natur, je nachdem, auf welcher Seite die Kabine liegt. Mal wiegt sich direkt vor dem Kajütenfenster ein grünes Schilfmeer im Wind, mal tänzeln die Schatten der vom Sonnenlicht reflektierten Wellen an der Kabinendecke. „Seen, wie Stahlplatten glänzend, gesäumt von lichten Sandufern, kohlschwarze Torfstiche, aus denen silberne Birkenstämme hervorblitzten. Ein schwarz-weißes Land. Ein großes Hinströmen nach Osten, das bis nach Sibirien gehen musste und das ihn einsog wie ein Abgrund fahlen Lichtes.“ Wortgewaltiger könnte man den ersten Eindruck der masurischen Landschaft nicht beschreiben. In seinem Roman „Der Erlkönig“ lässt der französische Schriftsteller Michel Tournier seinen Helden Abel Tiffauges wie ein staunendes Riesenkind durch ein mystisch verklärtes Ostpreußen stolpern.

Wie versetzt in ein von den Zeitläuften vergessenes Wunderland fühle auch ich mich, als wir durch die sanft hügelige Landschaft radeln, durch eigentümlich vertraute Dörfer, auf deren Häuserdächern Störche brüten, durch den Blättertunnel kerzengerade ausgerichteter Alleen. Als uns der endlose Forst der Johannisburger Heide verschluckt, einst größtes zusammenhängendes Waldgebiet Preußens, trete ich wie in Trance in die Pedalen, atme die würzige Luft, die nach Kräutern und frühlingsfrischem Laub riecht. Totenstille, nur ab und an ein Knacken im Unterholz und stundenlang das sanfte Gleiten der Reifen auf dem noch taufeuchten, festen Sand. Links und rechts eine Wand undurchdringlichen Grüns, unterbrochen von sumpfigen Senken, aus denen abgestorbene Baumstämme wie mahnende Riesenfinger ragen.

Für Deutsche ist das Bunkergebiet Wolfsschanze ein düster behafteter Ort

Der Wald, in dem sich das Scheusal 1000 Tage lang verkroch, sieht genauso aus. Der Weg zu seinem Schlupfwinkel führt über einen zugewucherten Schienenstrang. Hier irgendwo stand der Jahrhundertverbrecher Adolf Hitler mit geplatztem Trommelfell am 20. Juli 1944, als er nur Stunden nach dem missglückten Attentat seinen italienischen Spießgesellen Mussolini am Zug begrüßte. Auf den Trümmern der gesprengten Bunker wächst das Moos, und manche Birke hat sich mit ihrem Wurzelwerk hartnäckig im zerborstenen Größenwahn aus Stahlbeton festgekrallt. Ist es so etwas wie sanfter Grusel oder der Eishauch der Geschichte, den die englischen, italienischen und französischen Reisegruppen hier vorzufinden hoffen, wenn sie auf ausgetretenen Pfaden durch die Ruinen von Hitlers Wolfsschanze schlendern? Für uns Deutsche bleibt es ein düsterer Ort mit schlechten Schwingungen.

Von der neuen Freizügigkeit des wieder vereinten Europa haben Ellen und Sebastian Schurmann profitiert. Die beiden betreiben am Ufer des Flusses Krutinna (Krutynia) im Dorf Krutinnen (Krutyn) das malerisch gelegene Restaurant Syrenka, Teil der weitläufigen Ferienanlage Mazur Syrenka, zu der noch das im Stil eines preußischen Herrenhauses erbaute Hotel sowie ein Kaffeehaus, ein Tagungszentrum und der Park gehören. Die Geschichte ihres großen Wagnisses, den ungewohnten Weg von West nach Ost zu gehen, begann vor zehn Jahren, als in Warschau ein Wettbewerb zur Bewirtschaftung der Ferienanlage ausgeschrieben wurde. Schon zu deutscher Zeit war das Kurhaus Waldesruh ein beliebtes Ferienziel. „Mit unserem Plan haben wir alle überzeugt und daraufhin den Zuschlag erhalten“, sagt Ellen, die allerdings nicht verheimlicht, dass es familiäre Bindungen an den Ort gibt, die bis zur Generation ihrer Großmutter zurückreichen. „Natürlich wurden wir als deutsche Investoren von den Einheimischen zuerst kritisch beäugt. Aber das hat sich gelegt, als die Leute sahen, dass wir 30 Arbeitsplätze geschaffen haben.“ Das Zauberwort aber heißt Integration. Ellen engagiert sich im Förderverein der Schule, die ihre zwei Kinder besuchen, und Sebastian, der mittlerweile fließend Polnisch spricht, ist bei der freiwilligen Feuerwehr aktiv. „Nach zehn Jahren sind wir wirklich angekommen. Wir mögen nicht mehr weg, das ist jetzt unsere Heimat“, sagt er. Die schönste Liebeserklärung, die man Masuren machen kann.