Auf dem Peloponnes zeigt sich das alte Hellas von der schönsten, interessantesten Seite

Wie vom Himmel gefallen steht er plötzlich mitten auf dem sonnenüberfluteten Platz von Koliaki, einem winzigen Bergdorf hoch über der Küste der Argolis im Osten des Peloponnes, jener großen griechischen Halbinsel, die nur durch die sieben Kilometer breite Landbrücke bei Korinth mit dem Mutterland verbunden ist. Das Gespräch der Männer, die in kleinen Grüppchen vor dem Kafenion des Ortes sitzen, plaudern oder Tavli (eine Art Backgammon) spielen, verstummt für einen Moment, als Pope auf sie zukommt – eine große schlanke Gestalt im bodenlangen Talar. Unter dem Kamilavkion, der schwarzen, zylinderförmigen Kopfbedeckung orthodoxer Priester, quillt das graue Haar in breiten Strähnen hervor und fällt von einem dicken Haarknoten im Nacken fächerartig über die Schultern.

So selbstverständlich, als sei er eben nur für einen kurzen Augenblick fort gewesen, hangelt der Priester nach einem freien Stuhl, und Georgia, die Wirtin, eilt in die Küche, um schnell einen „Kafé elleniko“ aufzugießen, dieses starke dunkle Mokkagebräu, das so bitter und mehlig schmeckt, dass man es nur mit einem großen Schluck Wasser durch die Kehle spülen kann.

Georgia spricht Deutsch. 15 Jahre, erzählt sie, habe sie in Deutschland gelebt, in Köln in einer Kunststofffabrik gearbeitet. Nach dem Tod ihres Mannes sei sie zurückgekommen, hierher in ihren Geburtsort, und habe einen kleinen Supermarkt eröffnet, dazu dieses Kafenion auf der Platia, das – wie in jedem griechischen Ort – Kaffeebar, Versammlungsort der Männer und Nachrichtenbörse zugleich ist. Nur leider sei heute fast niemand mehr da, klagt Georgia, die jungen Leute seien alle weggezogen – nach Athen, nach Patras und Nauplia oder sogar nach Australien ausgewandert. Geblieben seien nur die Alten und Arbeitslosen. Und seit in den Zeitungen nur noch von Griechenlands schwacher Konjunktur, von Schuldenkrise und dem maroden Staatshaushalt zu lesen sei, kämen auch kaum noch Touristen ins Dorf. „Wer weiß, wo die heute alle hinfahren“, überlegt Georgia, „vielleicht in die Türkei, da soll ja alles billiger sein als hier. Dabei ist Griechenland so ein schönes Land...“

Recht hat sie. Das helle, klare Licht über dem Peloponnes duldet keinen Dunst und lässt alles in leuchtenden Farben erstrahlen. Am Horizont schimmert das Meer im tiefen Blau, überzogen von einem Gitternetz silbern glitzernder Wellen. Wie dicke runde Kissen wölben sich die Kronen der mächtigen Pinien über der Landschaft, überragt nur von den dunklen Stämmen der Zedern und Zypressen – schlank und spitz wie Zeichenstifte und immer grün, auch wenn es monatelang nicht geregnet hat. Orangen und Zitronen hängen in den Zweigen der Obstplantagen, die sich abwechseln mit scheinbar endlosen Olivengärten, die den Griechen alljährlich im Herbst den wertvollsten Schatz des Landes schenken – das grün-gelbe Gold des Olivenöls. Weiße Würfelhäuser kleiner Städte und Fischerdörfer säumen die Meeresbuchten, und weiter landeinwärts schmiegen sich mittelalterliche Klöster und Einsiedeleien wie Schutz suchend an mächtige Felsklötze.

Es ist eine Landschaft, wie sie zum Wandern und Erleben nicht idealer sein könnte – wild, lieblich und geheimnisvoll zugleich. Ein Götterland im wahrsten Sinne, erfüllt von den Geschichten und Mythen um Zeus und Co. Hier jagten und faulenzten die alten Götter, hier schmiedeten sie ihre Ränke und Intrigen. Hier schlüpfte Zeus, der Göttervater, in immer wechselnde Gestalten, um seine irdischen Geliebten zu verführen, und auch seine Gefährten trieben es nicht weniger toll, inszenierten Liebes- und Eifersuchtsdramen, neben denen heute jede Soap-Opera nur ein müdes Gähnen hervorrufen kann. Kein Wunder, dass Homer, der große altgriechische Geschichtenerzähler, hier den Ausgangspunkt für sein „Ilias“-Epos fand – über ein Ereignis, das mehr als 3000 Jahre zurückliegt, aber das heute noch immer Schul- und Geschichtsbücher füllt.

Mykene – die Stadt der Helden von Troja. Es ist noch früh am Morgen, als wir durch das berühmte Löwentor die Stadt betreten – besser gesagt das, was von der Stadt Agamemnons übrig geblieben ist: meterdicke Mauern aus riesigen Steinquadern, von denen die Menschen einst glaubten, nur Zyklopen, die einäugigen Riesen der Unterwelt, könnten so stark gewesen sein, diese Brocken aufeinanderzuschichten.

Durch das Löwentor schritt im Jahre 1876 auch der Troja-Entdecker Heinrich Schliemann (1822–1890), Self-made-Archäologe aus Mecklenburg, Homer im Gepäck und erfüllt vom Glauben an die historische Wahrheit der altgriechischen Dichtung. Schliemanns Ausgrabungen schienen das zu bestätigen: In den Gräbern entdeckte er einen der größten Goldschätze der Antike, darunter mehrere goldene Totenmasken mykenischer Könige. „Ich habe in das Antlitz von Agamemnon geschaut“, telegrafierte er an den griechischen König Georg I., begeistert und ergriffen zugleich.

Begeistert und ergriffen scheint auch die griechische Reiseleiterin zu sein, die gerade mit einer kleinen Gruppe deutscher Urlauber zu den Ruinen des Burgberges hinaufwandert – dorthin, wo der königliche Palast gestanden hat. „Agamemnon war mit Sicherheit der bedeutendste Herrscher seiner Zeit, das hier war das Zentrum seiner Macht – so etwas wie das Oval Office der antiken Welt“, schwärmt sie. Keine Frage: Homers Gestalten und die brütende Hitze, die über den Ruinen von Mykene lastet, beflügeln die Fantasie. Archäologen haben in den Mauerresten des Palastes sogar das königliche Badezimmer entdeckt: War das der Ort, wo Agamemnon nach seiner Rückkehr aus Troja von seinem Nebenbuhler Ägisthos erschlagen wurde?

Antike Kultstätten, Naturschönheiten und idyllische Badeinseln entlang der Küste machen die Argolis zur beliebtesten Ferienregion auf dem Peloponnes. Poros zum Beispiel, nur durch eine schmale Wasserstraße von der Halbinsel getrennt. Beinahe im Zehn-Minuten-Takt pendeln die Boote vom Festland hinüber – Flying Dolphins, Autofähren, Wassertaxis. Denn Poros, im Altertum ein religiöses Zentrum des Meeresgottes Poseidon, zählt zu den schönsten Inselorten im Saronischen Golf. Gleich hinter der kleinen Markthalle am Hafen zieht sich ein labyrinthisches Gassen- und Treppengewirr den Berghang hinauf, pastellfarbene Häuser mit roten Ziegeldächern, überragt von einem hohen Glockenturm, dem Wahrzeichen der Insel. Und unten, an der Ufermeile, reihen sich Restaurants und Tavernen, Schmuckläden und Boutiquen in langer Kette aneinander. Nur die Kunden fehlen. Vorbei die Zeiten, als noch fast täglich Kreuzfahrtschiffe vor Poros ankerten und an der Kaimauer die schmucken Yachten reicher Ausländer dümpelten. „Schlecht fürs Geschäft“, sagt auch der Kellner des kleinen Cafés achselzuckend, als er mir einen Frappé auf den Tisch stellt, dieses erfrischende Getränk aus aufgeschäumtem kalten Nescafé mit Milch und Zucker. „Immer mehr Leute verlieren ihre Arbeit. Wir können nur hoffen, dass bald wieder mehr Gäste kommen...“

Da ist Hydra, die Nachbarinsel, an der Südseite der Argolis gelegen, wohl noch besser dran. Wie der versteinerte Rücken eines riesigen Meeresungeheuers ragt die Insel aus dem Wasser, ein lang gestreckter Felsklotz, karg und abweisend. Doch das Bild ändert sich schlagartig, sobald die Fähre in den Hafen einbiegt.

Wie ein griechisches Theater reihen sich die Bauten im Halbrund um das Hafenbecken – eine Symphonie in den griechischen Nationalfarben Blau und Weiß. Weiß die kubischen Häuser, blau die Türen und Fensterrahmen der Kirchen und Kapellen, und selbst die Treppenstufen in den engen Gassen sehen aus, als seien sie jeden Morgen frisch mit weißer Farbe gestrichen worden. Esel und Maultiere dösen vor dem Schiffsanleger in der Sonne. Sie warten auf Kundschaft, denn Hydra ist eine autofreie Insel, jedes Gepäckstück muss per Hand oder mithilfe eines Vierbeiners zum Hotel gebracht werden.

Die Fischer und Schwammtaucher, die einst auf Hydra lebten, sind verschwunden oder haben umgesattelt, dafür haben sich zahlreiche Maler, Schriftsteller und Musiker auf dem spröden Eiland angesiedelt. Und unzählige Katzen. Es heißt, dass es beinahe 2000 sein sollen – fast ebenso viele, wie die Insel an Einwohnern zählt. Blicken lässt sich keine. Sicher ziehen es die schlauen Bartputzer vor, die heiße Mittagssonne irgendwo an einem schattigen Platz zu verschlafen, und überlassen das Feld lieber den vielen Touristen, die Tag für Tag mit großen Ausflugsschiffen von Piräus herübergetuckert kommen und nun auf der Hafenpromenade zwischen Fischrestaurants und den Straßencafés hin- und herwogen.

Wir würden gerne über Nacht auf Hydra bleiben. Doch zieht es uns zurück in unser kleines, gemütliches Hotel an der Bucht von Epidauros. Unter einem großen Maulbeerbaum im Garten, mit Blick auf das Meer und den Sonnenuntergang, wartet schon das Abendessen. Kostas Kiriakis und Eleni, seine Mutter, zaubern auf den Tisch, was die griechische Küche an Köstlichkeiten zu bieten hat, und Stefanos, der Wirt, sorgt dafür, dass die Weingläser immer gefüllt sind. Das Abendkonzert dazu liefert ein unsichtbares Orchester in den Büschen und Bäumen. Tausende von Zikaden zirpen um die Wette, manchmal so laut, dass ihr markantes Geräusch sogar die Bouzouki-Klänge übertönen, die von unten vom Strand heraufklingen.

Der Gesang der Zikaden empfängt uns auch am nächsten Morgen. Epidauros, Kultstätte für Asklepios, den Gott der Heilkunst, war einst Heiligtum und Heilbad in einem. Wie in Licht gebadet liegen die Tempelreste inmitten einer sanften Hügellandschaft, in der Luft hängt der schwere Duft der Pinienbäume. Epidauros galt als das größte therapeutische Zentrum der Antike, der bekannteste Kurort der Alten Welt, an dem sich Tausende von Menschen Erholung oder rasche Genesung erhofften. Wohl mit Erfolg, denn der Legende nach soll sich Hades, der Gott des Totenreiches, beim Göttervater Zeus bald über Arbeitsmangel beklagt haben. Der hatte ein Einsehen und streckte Asklepios mit einem tödlichen Blitzstrahl nieder.

Heute kommen die meisten Besucher nur, um das größte und schönste Theater der Antike zu bewundern – erbaut vor 2500 Jahren für 14.000 Zuschauer. 13 Jahrhunderte lang lag es verschüttet unter einer dicken Erdschicht, bis es im 19. Jahrhundert zufällig wiederentdeckt, ausgegraben und restauriert wurde.

Seit 1954 bietet es den Rahmen für das berühmte Festival von Epidauros. Maria Callas, Plácido Domingo, Luciano Pavarotti waren schon hier. Die Akustik gilt als einzigartig. Noch auf der obersten der 35 Sitzreihen soll zu hören sein, wenn auf der Bühne eine Stecknadel zu Boden fällt.

Eine kleine italienische Reisegruppe ist eingetroffen. Sie lässt es sich nicht nehmen, die Akustik zu testen. Ein selbst ernannter Operntenor schmettert eine Verdi-Arie und als Zugabe „O sole mio“. Dann verschwindet die Gruppe schnell wieder in Richtung Parkplatz, und nur noch das Zirpen der Zikaden füllt wieder das Theaterrund.