Das Naturerbe Zentrum in Prora gesellt sich zum Nationalpark Jasmund und dem Biosphärenreservat im Südosten

Da drüben seht Ihr eine Spechtschmiede.“ Mana Peter zeigt auf den abgestorbenen Ast einer Rotbuche, in dem ein langer Riss klafft. Diesen benutzt der pfiffige Vogel „gewissermaßen als eine Art Schraubstock, um dort Fichtenzapfen und andere Leckereien zu arretieren“. So kommt der Specht bequem an die Samen heran, speziell im Winter, wenn er wenig Nahrung findet.

Ein paar Schritte weiter. Frau Peter drückt die Hand gegen einen Baum, gibt ihm einen Schubs und versetzt ihn in Schwingung. Ein Vorgang, der die Elastizität zeigt, mit der sich Bäume im Wind üblicherweise verhalten. Eine Demonstration aber auch, die am Fuße des Stammes ebenso schlicht unmöglich gewesen wie die Spechtschmiede dem Auge verborgen geblieben wäre. Wir nämlich wandeln 15 Meter über dem Erdboden, auf Augenhöhe mit den Kronen urwüchsiger Buchen. Auf dem über einen Kilometer langen hölzernen Weg, der besondere Perspektiven auf Flora und Fauna eröffnet. Ein Baumwipfelpfad, der das Herzstück von Rügens nagelneuem Superlativ ist – dem Naturerbe Zentrum in Prora.

Natur erleben und Natur verstehen – diesem hehren Ziel kommt der Besucher auf verschiedenen Stationen spürbar näher. So kann er zum Beispiel kräftig kurbelnd am eigenen Leib schweißtreibend feststellen, welche Kraft ein Baum aufbringen muss, um Wasser von den Wurzeln bis in die Wipfel zu pumpen. So kann er mit einem grammofonähnlichen Trichter in einen Erlenbruch hineinlauschen und Geräusche intensiv wahrnehmen. Oder mikroskopisch scharf wie ein Seeadler in die Landschaft starren – mit einem speziell justierten Fernglas, das die fantastische Sehleistung des Raubvogels simuliert. Architektonisch raffiniert schraubt sich der Weg irgendwann plötzlich in Kreisen um eine Buche herum zu einem 40 Meter hohen Aussichtspunkt. Dieser wurde einem Adlerhorst nachempfunden und lässt in puncto Ostsee- und Bodden-Panorama keinerlei Wünsche offen. Zumal sich ganz oben wie auf Bestellung zunächst die Sonne und dann sogar ein Seeadler sehen lassen.

So eine Kulturlandschaft gibt es im norddeutschen Küstenraum nur einmal

Das ist aber bei Weitem noch nicht alles: Zum Naturerbe Prora gehören Wälder, Feuchtgebiete und Offenland, in denen Spezies wie Rohrdommeln, Seeadler und wilde Orchideen leben, die auf der Roten Liste stehen. Führungen in diese nahezu unberührten Lebensräume sind ebenso fester Bestandteil des Zentrum-Programms wie die vertiefende Dauerausstellung – mit jeder Menge gebündeltem Wissen und spielerischen Exponaten. Wer mal aus Feuersteinen Funken schlagen möchte, ist hier goldrichtig.

Für Naturfreunde war aber schon immer und ist Deutschlands größte Insel sehr wichtig. Das Biosphärenreservat Südost-Rügen schützt eine eigentümliche Kulturlandschaft, die es im gesamten norddeutschen Küstenraum kein zweites Mal gibt. Zum Beispiel das Mönchgut. Rügens südöstlicher Zipfel entwickelte aufgrund seiner Randlage und Abgeschiedenheit über Jahrhunderte nicht nur eigene Traditionen und Kultur; auf trockenen und nährstoffarmen Böden haben sich hier viele Pflanzen angepasst, die eigentlich am Mittelmeer und in Südosteuropa zu Hause sind. Wie spannend Gräser sein können, erfahren wir auf einer Wanderung durch die Hügel der Zickerschen Alpen, die von Frühjahr bis Herbst von bunt blühendem Trockenrasen überzogen sind. Dabei erzählt Stefan Woidig sehr anschaulich. Wenn er zum Beispiel darüber berichtet, „dass die Kämpfe der Gräser um den besten Platz, die meisten Nährstoffe und das meiste Wasser nicht nur über, sondern auch unter der Erde erbittert ausgefochten werden – notfalls mit chemischer Kriegsführung“.

Der Biologe zeigt uns den seltenen Berg-Haarstrang und den zwiebeltragenden Zahnwurz. Klappertopf und Silbergras, Schwalbenwurz und Ochsenzunge, die beide auf der Roten Liste stehen. Wir sehen Orchideen wie den Vogel-Nestwurz und das „konkurrenzstarke Land-Reitgras, um das selbst unsere besten Landpfleger, die rauwolligen pommerschen Landschafe, einen großen Bogen machen.“ Alles in allem ein ungemein lehrreicher und amüsanter Exkurs in famoser und fast menschenleerer Natur.

Wesentlich mehr Trubel herrscht im Nationalpark Jasmund mit seiner weltberühmten Kreideküste. Zumindest am Nationalparkzentrum mit dem Königstuhl und der Viktoria-Sicht. Wer sich hingegen von Sassnitz aus auf den Hochuferweg macht, hat die umwerfende Kulisse aus Kreidekliffs und Buchenwäldern, die sich ins Meer hinabzustürzen scheinen, fast für sich allein. Auch bei dieser Tour ist die Begleitung durch einen Fachmann überaus hilfreich. Ranger Siegfried Sacherow kennt jeden Meter Boden und seine Besonderheiten. Er war dabei, als 2005 die 20 Meter hohen Hauptzinnen der Wissower Klinken ins Meer rutschten, womit Rügen eines seiner Wahrzeichen verlor. Er erlebte 2011 die Unesco-Entscheidung, die „Alten Buchenwälder Deutschlands“ in die Welterbeliste einzuschreiben, „womit 500 Hektar Jasmunder Buchenwald plötzlich einen Stellenwert hatten wie der Yellowstone-Nationalpark oder die berühmten Victoriafälle.“

Am Kieler Bach, der als Wasserfall zum Strand plätschert, steigen wir über eine steile und nagelneue Treppe ab. Linkerhand eine mächtige Kreidewand, die ein toter Baum abzustützen scheint. Rechts das lange Massiv des Kollicker Ufers, zu dessen Füßen ein paar Strandgänger auf Schatzsuche gehen. „Das müssen wir nicht mehr“, sagt Siegfried Sacherow und präsentiert ein kleines, aber feines Potpourri eigener Fundstücke: Klappersteine, Hühnergötter, Donnerkeile, Seeigel, Bernstein. Und für all jene, die auf die Schnelle nichts davon finden werden, hat er tröstliche Worte parat: „Genießt einfach das Wunder, das die Natur uns hier geschenkt hat.“