Berlin on Bike bietet geführte Fahrradausflüge – auch in weithin unbekannte Ecken

Vor der Oase kommt die Wüste. Sie besteht aus einem Meer von Fahrrädern, alle ausgestattet mit Korb und knallgelbem Schild: „Berlin on Bike! Geführte Fahrradtouren“ ist darauf zu lesen. Na bitte, alles richtig, aber wieso sind schon alle startklar? Ich stürze mich auf den Herrn mit orangefarbener Signalweste an der Spitze: „Halt, ich bin auch angemeldet.“ Erstaunter Blick: „Wofür?“, fragt der Guide. Bei meiner Antwort lächelt er milde: Die Oasen-Tour sei ein Standardangebot und beginne erst in einer halben Stunde. „Dies ist eine individuelle Gruppentour.“

Erste Lektion an diesem Sonnabendnachmittag: Es gibt viele Touren zu unterschiedlichen Themen, die alle von der Kulturbrauerei, einem Industriedenkmal am Prenzlauer Berg, starten. Zweite Lektion: Bei großer Nachfrage gibt es mehrere Touren zu einem Thema. „Eine kleine Gruppengröße ist uns wichtig“, sagt Martin Wollenberg, der lieber auf die Anrede „Wollo“ hört. Der Inhaber von Berlin on Bike steht vor einem Schulpult, hakt Anmeldelisten ab und kassiert. Hinter ihm ein Fuhrpark aus 400 Fahrrädern: Vom Tourenrad mit 21 Gängen bis zum Kinderfahrrad – genug Auswahl für die 27 Gäste, die sich für die „Oasen der Großstadt“ angemeldet haben.

Die Routen sind so individuell wie die Guides, die sie zusammenstellen

Sie können sich auch zwischen den Guides Stefan und Sascha entscheiden. Ich bahne mir mit einem City-Bike den Weg zum Treffpunkt und stelle mir den Citycyclingboom recht anstrengend vor. Zumindest für andere Verkehrsteilnehmer: Vorneweg rollt eine Leuchtweste, dann 14 Radler hinterher, die auf alles Mögliche, nur nicht auf den Straßenverkehr, achten. Und in kurzem Abstand das gleiche Szenario noch einmal!

Aber das ist die dritte Lektion, die ich an diesem Nachmittag lerne. Und die beste: Auch wenn die „Oasen der Großstadt“ sich Standard nennen, weil sie regelmäßig angeboten werden, sind sie doch so individuell wie die Guides, die sie selbst zusammengestellt haben. Sascha wird auf keinen Fall hinter Stefan herfahren, sondern seine eigene Route wählen. „Es gibt kein Skript.“ Der Fahrradfreak fährt über einen kleinen Friedhof, eine Oase der Ruhe zwischen zwei Hauptstraßen, dann weiter Richtung Flughafen Tempelhof: „Aufs freie Feld. Nirgendwo sonst hast du so viel Horizont in Berlin“, sagt Sascha.

Stefan rollt den Prenzlauer Berg hinunter, durch Viertel mit teuren Lofts und Parks mitten hinein in die Karl-Marx-Allee. „Und wo ist die Oase?“ Die Gruppe steht vor leeren Schaufenstern unter neongelbem Schriftzug: Die Karl Marx Buchhandlung ist legendär. Vor der Wende konnten hier West-Berliner den Zwangsumtausch loswerden: DDR-Mark gegen Literatur von Mao, Marx oder Mann. Nach der Wende war sie Kulisse für zahlreiche Kinofilme, unter anderem „Das Leben der Anderen“. Seit 2008 ist der Laden dicht: „Zum Einkaufen ist es hier zu unattraktiv, es gibt zu viel Konkurrenz“, sagt Stefan.

Unter der Schirmkappe trägt er einen grau melierten Zopf: „Ich bin ein alter Wessie“, sagt der Wahlberliner. Aber einer, der die Arroganz gegenüber dem Osten nicht teilen will. „Man sollte das nicht unterschätzen. Müllschlucker, Fernwärme, Aufzüge, Dachgärten – und das Anfang der 50er-Jahre“, lobt Stefan die Mischung aus stalinistischer Bauart und deutschem Klassizismus, berichtet von Wartelisten und einer Lotterie: „Der Gewinn war das Anrecht an der Karl-Marx-Allee zu wohnen, dem Gegenstück zum Ku’damm im Westen.“ Heute steht das ehemalige DDR-Bauprojekt unter Denkmalschutz und geht demnächst vielleicht als Weltkulturerbe in die Geschichte ein: „Der Antrag läuft, hat gute Aussichten auf Erfolg.“

Von der Dachgartenoase zum Kulturstadtteilprojekt: Die Gruppe hält am „RAW Tempel“, Begegnungsstätte zwischen Ost (Friedrichshain) und West (Kreuzberg). RAW steht für Reichsbahnausbesserungswerk, aber davon ist zwischen Open-Air-Kino, Skatehalle und Kletterkegel nichts mehr zu spüren: „Es gibt natürlich Investoren, die hier das Übliche errichten wollen – nämlich Büros, Wohnungen und Einkaufszentren.“ Die Veränderung der Arbeiterstadtteile durch aufstrebende Mittelschichten spielt auf der vierstündigen Tour immer wieder eine Rolle: „Das ist ein Problem und gehört mit in die Stadterkundung“, betont der Guide.

Fünf Radfahrminuten von Graffitiwänden, Industriebau und Elektroparty entfernt führt er die Gruppe in eine komplett andere Welt: strahlend weiße Reihenhäuser, Backsteingotik, Vogelgezwitscher. Wir sind auf der Halbinsel Stralau und blicken auf die Rummelsburger Bucht und ihre citynahen Wohnquartiere. Segelschüler üben die Wende, Jogger umrunden den Ufergrünzug, Angler warten auf den großen Fang. „Bis zur Jahrtausendwende gab es keinen Zugang zum Wasser, das war alles Industriegebiet oder Untersuchungsgefängnis“, sagt Stefan. „Ich finde sehr gelungen, was hier gemacht wurde.“

Die Gäste nicken. Sie kommen aus Minden, Stuttgart oder den Niederlanden und sind in der Regel schon berlinerprobt. Bundestag, Brandenburger Tor und Potsdamer Platz sind ein Muss, aber die Fahrradtour setzt der Berlinreise ein i-Tüpfelchen auf. „Ich bin oft in Berlin, aber diese Ecken kenne ich gar nicht“, sagt eine Potsdamerin und bestaunt den aufgeschnittenen Bus, das mit Kunstrasen überzogene Auto sowie riesige Sitzbänke – Kunstinstallationen.

Wir sind entlang der Spreepromenade geradelt, vorbei an dem Monumentalkunstwerk Molecule Man: Drei hohe Figuren aus gelochtem Aluminium halten sich gegenseitig die Waage – mitten im Spreewasser, ungefähr da, wo die Bezirke Friedrichshain, Kreuzberg und Treptow zusammentreffen. Dann weiter durch ein ehemaliges Straßenbahn- und Busdepot bis zum „Flutgraben“, einem Seitenkanal der Spree: Hier schauen wir auf die verlassenen Kunstinstallationen sowie beleuchtete Bars und Cafés am anderen Kanalufer.

„Die Caféanlage auf dem Ponton gehört zu Kreuzberg“, sagt Stefan. Er steht auf der ehemaligen Grenze und zeigt auf das Gebäude zur Rechten. Bis zur Wende waren Türen und Fenster zugemauert, nur ausgewählte Mitarbeiter für die Arbeit im Busdepot zugelassen. „Das war alles gesperrt“, sagt Stefan. Die Gruppe fröstelt. Wo jetzt Menschen in Clubs am Ufer chillen, verlief vor 30 Jahren der Todesstreifen. Unvorstellbar. Ein wenig Mauertour ist jede Tour, sagt der gebürtige Saarländer: „Ich hab die Kreuzberger Zeit und die Mauerzeit erlebt, aber am spannendsten waren die vergangenen 20 Jahre.“

Als wir vor dem Pergamonmuseum stehen, weist er auf eine Wohnung auf der gegenüberliegenden Straßenseite, wo zwei Polizisten einen Hauseingang bewachen: „Ich bin oft hier, aber Frau Merkel hat mich noch nie zum Kaffee eingeladen.“ Dafür weiß Stefan von einem spontanen, aber vergeblichen Sonntagsbesuch des Ehepaares Merkel/Sauer bei Annette Schavan, die ganz in der Nähe wohnt: „Aus Sicherheitsgründen stand der Name Schavan aber nicht an der Klingel.“ Woher er die Info hat: „Ich hatte hier auch schon Tourteilnehmer, die in der Regierungsbehörde arbeiten.“ So funktioniert Berlin per Bike: Austausch, Information und Umlauf auf zwei Rädern.