Als der Junge sieben war, hefteten ihm seine Eltern ein Pappschild auf die Brust, auf dem in Großbuchstaben „ULM“ stand, und übergaben ihn einem Mann in dunkelblauer Uniform, der nach Tabak stank und ihn ganz vorn in einen roten Zug setzte. Er hatte keine Angst, er war viel zu beschäftigt mit Schauen. Die speckigen Kunstledersitze, die silbernen Klappaschenbecher, vor den Fenstern die Tannen, die nur so vorbeiflogen. Drei-, viermal reichte ihn an den Bahnhöfen ein Mann in Dunkelblau an den nächsten weiter, und irgendwann war er da. Er war gereist: von Harbatshofen im Allgäu nach Ulm, fernstes Ausland. Von da an liebte er Züge.

Damit kein Irrtum aufkommt: Welche Lok vorn dampfte oder brummte, war ihm immer egal. Was ihn fasziniert, ist jenes Versprechen, das im rhythmischen Stampfen oder gleichmäßigen Rauschen der Räder steckt: Es geht weg vom Alltag, dem Unbekannten entgegen.

Seit damals hat er viele Züge kennengelernt: In der rußigen Bahn nach Athen teilte er sich zweieinhalb Tage lang das Abteil mit Männern, die in schwäbischen Autowerken ihr Geld verdient hatten und ihn nun mit Käse und Wein verköstigten. In San Sebastian warf ihn die Guardia Civil aus dem spanischen Talgo, weil er nicht wusste, dass man den Luxuszug nur mit Reservierung benutzen durfte. Und in Rumänien fand er sich nach nächtlichem Umsteigen im Zug nach Warschau wieder – und wollte doch in Richtung Wien.

Auch heute noch, längst ein Mann, schätzt er die Bahn. Natürlich gibt es im Ausland Züge anderen Kalibers: elegante Luxusmaschinen ebenso wie überfüllte, dreckige Museen auf Rädern. Deutschland ist gutes Mittelmaß. Und noch immer liebt er Züge, ist vor der Reise gespannt, mit wem er wohl das Liegewagen-Abteil teilen wird. Ob sich ein lustiger Abend ergibt oder jeder sich mit Buch und Kopfhörer zurückzieht. Beides hat seine Reize.

Oft nimmt er sich Arbeit mit in den Zug. Und ertappt sich dann, wie er versonnen vor sich hin blickt: gemusterte Sitzbezüge, grauer Teppich. Draußen fliegen Tannen vorbei, Kilometer um Kilometer, die Seele hält mit. Pappschild hat er keins mehr um. Es klappt ohne. Meistens jedenfalls.