Marseille feiert sich als Europas Kulturhauptstadt – auch mit einem ungewöhnlichen Wanderweg. Der GR 2013 ist allerdings nichts für Naturromantiker

Spazieren durch Lavendelfelder oder unter schattigen Platanen? „Unser Konzept vom Wandern ist völlig anders“, sagt Baptiste Lanaspèze und beginnt zu strahlen. „Werdet ihr schon sehen.“

Auweia, denke ich. Ist das eine Warnung oder ein Versprechen? Lanaspèze, 36, Typ Großstadt-Hipster mit Vollbart und Adidas-Turnschuhen, ist Marseille-Fan, Philosoph, Verleger – und Erfinder des ersten „metropolitanen Fernwanderwegs“ in Frankreich, vermutlich der Welt. Wie eine verbogene Acht schlingt sich der „Sentier métropolitain de Grande Randonnée“, der GR 2013, in zwei Schleifen um Marseille und deren Agglomeration, rund 360 Kilometer durch das jüngst aufgehübschte Zentrum und die Vorstädte, durch Naturschutz- wie Industriegebiete. Elf Wanderkünstler, „Artistes-Marcheurs“, haben die Schleifen ausgekundschaftet und als ihren Beitrag zur Kulturhauptstadt in 20 Tagestouren aufgeteilt. Wir – Fotograf Timmo Schreiber, meine französische Nichte Juliette und ich – sind aufgebrochen, um einige Etappen zu erkunden. Und schon am Ausgangspunkt, dem Knotenpunkt der Acht, merken wir: Das wird eine Wanderung der sehr speziellen Art.

Ein Bahnhofsbau aus Stahl, Holz und Glas empfängt uns, hypermodern – doch mitten im Nichts. „TGV Aix-en-Provence“ steht an den Gleisen, ein erstes Kuriosum. Denn nur die Landstraße D 9 führt von hier weg, und Aix ist 16 Kilometer weit entfernt. Im Gebäude rollen eilige Geschäftsreisende ihre Koffer um uns herum; mit unseren Wanderstiefeln und mit Rucksäcken fühlen wir uns fehl am Platz. Doch da entdeckt Juliette die erste Wegmarkierung: zwei Striche in rot-gelb, gepinselt auf den Fußgängerübergang, der den Bahnhof überspannt. Genau das sei der Schnittpunkt der beiden Schleifen, erklärt Baptiste und zeigt gen Osten, wo sich die Sonne über einen Berg erhebt. „Die eine umkreist das Massif de l’Étoile“, Baptiste dreht sich um, „die andere die Lagune des Étang de Berre. Diese beiden Landschaftsflecken sind als einzige rund um Marseille nicht besiedelt.“ Wir starten Richtung Étang. „Heute Abend seid ihr im Städtchen Marignane und morgen schon am Mittelmeer“, verspricht unser Führer.

Allez-go! Wir marschieren los. Über den halb leeren Parkplatz vor dem Bahnhof in die Garrigue des Plateau de l’Arbois. Rosmarin und Thymian duften unter Kiefern, wir hören die Grillen zirpen. Das provenzalische Idyll wäre perfekt, würden nicht auf einmal Modellflugzeuge über unseren Köpfen kreisen und hier und da Betonplatten unter dem Grün zu sehen sein. Der Wanderweg führt mitten durch ein altes Militärlager. Einst brachen von hier die Truppen Napoleons III. auf, 90 Jahre später dann 45 000 GIs in den Krieg gegen Deutschland. Kein schlechter Start für eine deutsch-französische Wandertour! Nach zehn Minuten stehen wir an der Kante des Plateaus und sehen auf den blaugrün glänzenden Étang de Berre, Frankreichs größten Binnensee. Oder ist es eine Meeresbucht? „Beides“, weiß unser Führer. Ein natürlicher Kanal verbindet die Lagune mit dem Mittelmeer, in einem Haff liegt ein Vogelschutzgebiet. Ich blinzle in die Ferne. Romantik sähe anders aus: Um den gesamten See ist die Landschaft verbaut. Häuser, Fabriken, Parkplätze, Straßen. Hinter der A 7, der sechsspurigen „Autoroute du Soleil“, ragt die Landebahn des Flughafens Marseille-Provence ins Wasser, am Ufer gegenüber hat sich die französische Petroindustrie mit ihren Tanks und Schloten breitgemacht.

Timmo aber schwärmt: „Ein abgefahrenes Panorama!“ Er kann kaum glauben, dass hinter der nächsten Biegung eine noch bizarrere Szenerie auf uns wartet. Als wäre der Mars abgestürzt und hätte sich vor Schreck verflüssigt, füllen dort unfassbare Massen roten Schlamms einen alten Steinbruch. Jahrelang haben Lastwagen die Abfallstoffe industrieller Bauxitgewinnung abgeladen; ungiftig angeblich. Doch kein grünes Pflänzlein wächst auf dem erstarrten Untergrund, das Wäldchen nebenan hat der Wind rötlich bepudert. Als wäre dies nicht genug, taucht plötzlich eine Gruppe Menschen auf, die ein Bett samt weißer Kissen auf der Marslandschaft drapieren. Eine Fata Morgana? Ein Kunstprojekt? Ein Malkurs? Nein, ein Schreibseminar zum Thema Schlaf, wie wir erfahren. Baptiste Lanaspèze freut sich wie ein Kind über unsere Verwunderung. Genau dieses Staunen haben er und die Artistes-Marcheurs mit dem GR 2013 bezweckt: Wanderer sollen Neuland betreten, statt nur die bekannten Attraktionen zu besuchen; sie sollen ein Terrain entdecken, dessen Existenz ein Autofahrer nicht einmal ahnt. 20 Minuten dauert die Fahrt auf der A 7 von Aix-en-Provence nach Marseille. Zu Fuß auf dem GR benötigt man für die gleiche Strecke fünf Stunden und lotet dabei die vermeintlich bekannte Geografie völlig neu aus. „Darum ging es uns“, erklärt Baptiste mit seinem mitreißenden Strahlen. „Wir wollten das so typische Marseiller Potpourri aus Menschgemachtem und Natur wieder erlebbar machen.“

Ich fühle mich ertappt. Seit ich vor 15 Jahren in Aix-en-Provence ein sonniges Erasmus-Jahr lang Geografie studiert habe und (statt in der Bibliothek zu sitzen) ausgiebig durch die Umgebung geschweift bin, komme ich fast jedes Jahr in die Provence zurück; meist mit Wanderstiefeln. Doch ich bewege mich dann fast nur auf den immer gleichen Pfaden. Warum? Wo ist die Neugier hin? Ich weiß es nicht. Und spüre gleichzeitig, wie sie mich nach nur drei Stunden Marsch durch diese seltsamen Gefilde wieder packt. Die Idee vom „metropolitanen Wandern“ hat sogar die gewöhnlich eher trägen Behördenmenschen überzeugt. Dauert es in Frankreich durchschnittlich zwölf Jahre, einen „Sentier de Grande Randonnée“ zu planen, genehmigen zu lassen und zu markieren, wurde der GR 2103 im Rekordtempo realisiert. Helfer aus 38 Kommunen beteiligten sich an der Planung, Mitglieder der örtlichen Wanderclubs markierten die Strecke. Nicht zuletzt gelang es dem jungen Verleger Baptiste Lanaspèze, Künstlerfreunde und Wandersleute an einen Tisch zu holen und einen gemeinsamen Wanderführer zu publizieren. Halb Routenführer, halb Kunstkatalog mit Fotos, Zeichnungen und Texten. Stolz zieht Baptiste seinen „TopoGuide“ hervor, auf dessen Titel zwei Wandersleute vor einem Fabrikgebäude rasten. „Postkartenlandschaften sind doch langweilig“ ruft er Timmo zu. „Hier drin zeigen wir die echte Provence!“

Wir betreten das rot gepuderte Wäldchen, und bald schon folgt der nächste Szenenwechsel. Im Schatten eines Feigenbaums plätschert die Quelle des Flüsschens Infernet. Ein Reiher schnappt im Wasser nach Fischen. „Hatten wir nicht gerade das Gefühl, mitten in einer üblen Industriezone zu sein?“, fragt Timmo in die Runde. Wir folgen dem glucksenden Mäandern bis in ein Wohngebiet am Stadtrand von Vitrolles. Durch hohe Hecken riecht es verführerisch nach Mittagessen. „Und wir?“, frage ich. Passenderweise steht an der nächsten Straßenkreuzung ein Snack-Mobil bereit, „La Payole“ hat es die Wirtin im lokalen Slang getauft; auf Deutsch „Snack am Arsch der Welt“. Wunderbar! Wir ordern das wohl beliebteste französisches Fast-Food-Gericht, Sandwich Merguez-Frites, eine pikante Lammwurst im Baguette mit Fritten, und lassen uns auf Campingstühle fallen. „Boar“, ruft Juliette. „Erst Mittag und so viele Eindrücke. Ich habe das Gefühl, wir sind schon seit Tagen unterwegs.“

Dieses Gefühl wird uns die gesamte Wanderung begleiten. Nach fast jeder Kurve hält der Parcours Überraschendes und Verblüffendes für uns bereit. Bis zum Abend sehen wir „das grünste Grün der Welt“, wie Juliette meint: ein hallengroßes Gewächshaus, in dem Tausende junger Salatköpfe reifen. Und gleichzeitig das „hässlichste Gebäude aller Zeiten“: einen Nachtclub in Würfelform, fensterlos, mit roten Tupfen auf schwarzen Wänden; eine Jugendsünde von Rudy Ricciotti, dem nunmehr hochgelobten Architekten des MuCEM in Marseille. Wir waten unter der A 7 durch einen Bach, barfuß und im Zickzackmodus auf Steinen, um nicht allzu nass zu werden, und erfahren von Baptiste, dass der Wanderweg die Autobahn insgesamt 14-mal kreuzen muss, „das schwierigste Hindernis der gesamten Planung“! Und wir treffen Pilzsammler, Reiterinnen, Motocross-Raser, Flugzeug-Spotter, die uns nach einem kurzen Plausch stets dasselbe fragen: Ihr wollt bis nach Marignane? Warum nehmt ihr nicht den Bus? Hätten wir später einen erwischt, wir wären eingestiegen. Denn so sehr der Weg uns vitalisiert, erschöpft er auch; den Kopf noch mehr als die Glieder. Im Zentrum Marignanes angekommen, checken wir in ein Nullachtfünfzehn-Hotel ein. Zum Abendessen setzen wir uns ins erstbeste Restaurant und merken viel zu spät, dass wir in eine soirée célibataire hineingeraten sind, eine Singleparty unter Vorstadt-Schönheiten. Und wir im Wanderzeug! Juliette muss unentwegt kichern. Ihre letzten Worte, bevor sie im Hotelbett neben mir einschläft: „Geniale Wanderung! Aber ich hoffe, das war die erste und letzte Singleparty meines Lebens.“

Tag zwei beginnt ohne Baptiste, dafür mit Croissants und dem Beschluss: Wir fahren Bus, um schneller am Jaï zu sein, jener sechs Kilometer langen Sanddüne, die den Étang de Berre mitten im Wasser quert. Wir passieren ein Sommerbad mit Palmen, wo tatsächlich glasklare Wellen in den Sandstrand knirschen, kilometerlang bis ans Ufer gegenüber. Abseits des Strandes indes wirkt der Jaï wie eine Filmkulisse aus den 1970er-Jahren. Häuschen hinter manikürten Rasenflächen reihen sich aneinander, Gartenzwerge noch und nöcher. Auf einer komplett gekachelten Veranda sitzen unter einer Marienstatue drei Madames auf Plastikstühlen und nippen an bunten Aperitifs. Sie scheinen bestens gelaunt zu sein. „Bonne route!“, rufen sie uns zu.

Gegen Mittag haben wir erst zwei Kilometer geschafft, vier liegen noch vor uns. Jetzt zieht sich die Strecke. Zumal wir vergessen haben, Baguette fürs Picknick zu kaufen. Vor Hunger ganz knatschig, verlassen wir schließlich den Jaï, schlagen uns mit letzter Kraft durch eine Kirschplantage – und stehen plötzlich auf der Zufahrtsstraße eines centre commercial. Autofahrer hupen, Einkaufswagen scheppern, Lastwagen rasen an uns vorbei. Juliette schaut mich verzweifelt an. Da entdecke ich ein Schild: „Bistro Delizioso 50 m. Plat du Jour: Couscous.“ Ihr Lieblingsessen! Wir sind gerettet. Das Couscous, aufgetaucht und aufgetischt wie aus dem Nichts, wird der kulinarische Höhepunkt unserer Wanderung bleiben. Denn in Martigues, das mit seinen Kanälen und Stadtpalästen wie eine kleine Schwester Venedigs wirkt, essen wir nur mittelmäßig. Und im Hôtel de la Poste in Port-de-Bouc, einem Tipp von Baptiste und eigentliches Ziel unserer Tagesetappe, kommen wir leider zu spät zum déjeuner. Warum wir uns verspäteten? Es ist immer das Gleiche auf diesem Weg: Statt wie beim Wandern in den Bergen mit dem Blick in die Weite zu schweifen, bleibt er hier ständig in der Nähe hängen, und wir pausieren. Beobachten, wie ein älterer Monsieur mit Hingabe die Katzen seiner Straße füttert. Lauschen dem Lärm, der von einer imposanten Autobahnbrücke bis hoch in die Olivenhaine von Martigues dringt, wo wir vom Étang bis zum Golfede Fos blicken können. Und warten am Kai des Containerhafens in Port-de-Bouc wieder und wieder, bis gegenüber im Petrohafen die Gasflamme aufzüngelt.

Der Wanderweg schont keinen und zeigt alles: die grandiosen Alltagsszenen der Marseiller Industriekultur genau wie die nervigen. „Fast nirgendwo ist es richtig still“, bemerkt Juliette. Timmo sehnt sich allmählich doch nach „lieblichen Motiven“. Und mir macht der Verkehr zu schaffen. Am Nachmittag des vierten Tages steigen wir schließlich in den Zug zurück nach Marseille. Sanft durchgeruckelt vom Regionalzug TER, staunen wir ein letztes Mal über die Größe des Petrohafens von Port-de-Bouc. Und sind dann verzaubert, wie azurblau die Buchten der Côte Bleue im Nachmittagslicht leuchten. Keine fünf Minuten trennen die beiden Panoramen. Den Sonnenuntergang erleben wir vor Marseilles Wahrzeichen und höchstem Aussichtspunkt, der Kathedrale Notre Dame de la Garde. Auch sie liegt auf der Strecke des GR 2013 und bietet Rundumsicht in weite Ferne. Viele Male stand ich schon hier oben, doch heute ist mein Blick ein anderer. Wir haben die Region nicht nur besucht. Wir haben sie uns Schritt für Schritt erwandert.

Der (leicht gekürzte) Text stammt aus dem aktuellen „GEO Special“. Es ist für 8,50 Euro im Handel erhältlich