Ein Besuch in Christchurch, der größten Stadt auf der Südinsel Neuseelands, die 2011 durch ein Erdbeben nahezu vollständig zerstört wurde

„Sechs Freunde habe ich beim Erdbeben verloren, im Hotel wurden 44 von 66 Zimmern zerstört!“ Lesley von der Rezeption des Bealey’s Hotel in Christchurch kämpft mit den Tränen, als sie beim Einchecken von den Erlebnissen während und nach der Katastrophe erzählt. Draußen ist ein leerer Platz, wo früher zwei Drittel des Hotel-Komplexes standen. „Im nächsten Jahr werden wir alles wiederaufgebaut haben“, sagt sie und versucht ein Lächeln.

Eine Stunde zuvor war ich in Christchurch gelandet, der größten Stadt der Südinsel Neuseelands. Schon auf der Fahrt vom Flughafen zum Hotel hat Ron, der Fahrer des Shuttlebusses, gesagt, die Tragödie habe seine Heimatstadt für immer verändert. Er zeigte auf Ruinen am Straßenrand. Was für ein Wiedersehen mit Christchurch, das ich über Jahre hinweg immer wieder mal besucht hatte. Die schönste und liebenswerteste Stadt des neuseeländischen Insel-Staates – friedvoll, entspannt, reich an Kultur und mit hohem Freizeitwert.

Der erste Warnschuss kam am Sonnabend, dem 4. September 2010, morgens um 4.35 Uhr. Ein schweres Erdbeben erschütterte die Stadt und verursachte erhebliche Schäden. Dass trotz der Stärke von 7,1 auf der Richterskala niemand ums Leben kam, grenzte an ein Wunder. Es gab nur wenige Verletzte. Christchurch gehörte bis dahin nie zu den gefährdeten Gebieten des Landes, in dem die Erde rund 20.000-mal im Jahr bebt – meist nur schwach. Aber was niemand für möglich gehalten hatte und selbst Seismologen völlig überraschte, geschah fünfeinhalb Monate später, am Dienstag, dem 22. Februar 2011, mittags um 12.51 Uhr. Ein erneutes schweres Erdbeben zerstörte fast die gesamte Innenstadt. Das Wahrzeichen von Christchurch – die neugotische Kathedrale von 1881 – hielt dem Beben ebenfalls nicht stand. Diesmal wurden 185 Menschen getötet, mehrere Tausend verletzt!

Obwohl das Februar-Beben der Stärke 6,3 schwächer war als jenes im September, löste es die schreckliche Katastrophe aus – auch deshalb, weil der Erdbebenherd näher an der City lag und in geringerer Tiefe. Die Innenstadt riegelte man nach der Evakuierung mit hohen Drahtzäunen ab und nannte sie fortan Red Zone. Im Rahmen der Aufräumungsarbeiten verkleinerte sie sich seither systematisch, nach und nach wurden einzelne Gebiete wieder zugänglich gemacht. Jetzt besteht die Sperrzone nur noch aus dem Kern der Innenstadt mit der Ruine der Kathedrale. Bis September 2013 soll der letzte Zaun fallen.

Bei meinem ersten City-Rundgang bin ich schockiert vom Ausmaß der Zerstörungen. Noch nicht beseitigte Ruinen, enorm viele freie Flächen, wo einst Häuser standen, beschädigte Hauswände, die von übereinandergestapelten Schiffscontainern gestützt werden. Der Verlust an wertvoller Architektur ist unermesslich. An vielen Orten sieht man Kräne, Bagger, Räumfahrzeuge und Arbeiter beim Abreißen von Gebäuden oder beim Transport von Trümmern. Der Wind wirbelt Staub von riesigen Schutthalden auf. Es herrscht eine fast surreale Atmosphäre.

Obwohl ich die Stadt gut kenne, fällt ab und zu die Orientierung schwer, weil markante Gebäude nicht mehr da sind. Gesperrte Straßen und Warnschilder wie „Extreme Danger!“ zwingen mich häufig, Umwege zu gehen. Gebäude, deren Hauswände aufgerissen sind, geben den Blick frei auf umgestürzte Schränke und Regale in Wohnungen und Büros oder auf demolierte Sitzreihen eines Theaters – unverändert seit dem Moment der Katastrophe.

Bis heute folgten viele Tausend Nachbeben, darunter einige schwere im Juni und Dezember 2011, die neue Schäden verursachten, auch Menschen verletzten. Doch die täglichen Beben werden schwächer. Während meines einwöchigen Aufenthaltes gibt es 15 kaum spürbare Nachbeben.

Annie, Angestellte in der Bibliothek, berichtet, dass es besonders für ältere Menschen sehr schwer sei, die Katastrophe und ihre Auswirkungen zu verkraften. „Viele von ihnen sehen sich in einer permanenten Stresssituation. Sie gehen nicht mehr in die Innenstadt, weil sie den Anblick der Zerstörungen nicht ertragen würden.“ Mehr als 13.000 der einst 376.700 Einwohner haben Christchurch inzwischen verlassen.

Noch überwiegt der Katastrophen-Tourismus in dieser verletzten Stadt. Populär ist die 40-Minuten-Bus-Tour „Beyond the Cordon“ (Jenseits der Absperrung), denn sie führt direkt in die Rote Zone. Aussteigen verboten – die Türen des Busses bleiben aus Sicherheitsgründen immer geschlossen.

Paul, unser Guide, informiert: „Rund 9000 Wohnhäuser wurden zerstört oder so stark beschädigt, dass sie abgerissen werden müssen. Dasselbe gilt für die meisten historischen Gebäude inklusive Kirchen. Auch etliche hohe Bürogebäude und Hotels stehen noch auf der Abbruchliste. Etwa 100.000 Wohnhäuser sind reparaturbedürftig.“ Er schätzt, dass der Wiederaufbau 30 Jahre dauern wird. Höhepunkt der Tour ist der Stopp vor der Ruine der Kathedrale auf dem Cathedral Square. Erschütternd zu sehen,was von diesem prächtigen, 130 Jahre alten Bauwerk übrig geblieben ist.

„We will smile again“ ist auf dem Plakat an einem beschädigten Haus zu lesen

An verschiedenen Stellen der Stadt erinnern Gedenkstätten an die 185 Todesopfer. Besonders bedrücken mich die auf einer Wiese stehenden 185 weißen Stühle, unter denen jeweils ein Blumenstrauß liegt. Da sind Kinderstühle für jedes getötete Kind, auch ein Rollstuhl für einen Behinderten. Ein anderer Ort des Gedenkens ist der mit Blumen, Fotos und Briefen bestückte Drahtzaun, der ein leeres Grundstück begrenzt. Hier stand das sechsstöckige Gebäude des lokalen TV-Senders CTV – Canterbury Television, unter dessen Trümmern 115 Menschen starben. „We will smile again“ – wir werden wieder lächeln – lese ich auf einem Plakat, das an der Wand eines beschädigten Hauses klebt. Trauer und Hoffnung liegen in Christchurch dicht beieinander. Die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der „Kiwis“ erfahre ich auch diesmal – trotz der problematischen Lage.

Kreativität, Improvisationskunst und den Willen, die Stadt wieder lebenswert zu machen, verkörpert die im Oktober 2011 eingeweihte Fußgängerzone Re:Start Mall. Es ist die ehemalige Einkaufsstraße Cashel Mall, die anfangs zur Red Zone gehörte. Bevor hier neu gebaut werden kann, verwirklichte man eine geniale Idee: Farbige Schiffscontainer, teils aufeinandergestellt, ersetzen zunächst die geplanten Gebäude.

In den Containern sind neben Geschäften auch Banken, ein Postamt und Cafés untergebracht. Rundherum Blumen und viel Grün, Straßenmusiker und Imbissstände. Shopping und Kaffeetrinken in Schiffscontainern – das ist schon ziemlich einzigartig.

An der Re:Start Mall öffnete im Februar 2013 das Museum Quake City seine Pforten. Eine sehenswerte Dokumentation der Erdbeben 2010/11 mit Fotos, Videos, Informationstafeln und Ausstellungsobjekten. Beim Spaziergang entlang der Mall werde ich an deren Ende durch den Zaun der Red Zone gestoppt. Graues, totes Niemandsland im Kontrast zur bunten, lebendigen Einkaufsmeile.

Die Erdbeben-Katastrophe hat auch tief greifende Folgen für den Tourismus: Mehr als drei Viertel der Hotelzimmer gingen verloren, die Besucherzahlen sanken dramatisch. Christchurch als gefragtes Reiseziel wieder zu etablieren ist ein mühsamer, langwieriger Prozess – verknüpft mit der dringend notwendigen Erhöhung der Unterkunftskapazität.

An der traditionellen Funktion der Stadt als „Haupteingangstor“ zur Südinsel und als idealer Ausgangspunkt für Rundreisen hat sich jedoch nichts geändert. Außerdem bietet Christchurch wieder die meisten seiner Attraktionen an, so das International Antarctic Centre, die Willowbank Wildlife Reserve, Fahrten mit einem Stechkahn auf dem Avon River und mit einer Seilbahn zum Gipfel des Mount Cavendish.

Ausflüge nach Lyttelton, dem Hafen von Christchurch, und zum Küstenvorort Sumner bringen allerdings erneut die Schrecken der Naturkatastrophe nahe. Denn auch dort verursachten die Erdbeben gewaltige Schäden.

Christchurch, wie es Bewohner und Touristen vor den Erdbeben kannten und liebten, gibt es nicht mehr. Eine neue City wird entstehen – die Herausforderung ist gigantisch und kostet viel Geld, Kraft, Mut und Geduld. „Wir haben doch jetzt gar keine andere Chance, als optimistisch zu sein!“, sagt mir eine Verkäuferin. Bei meinem Abflug steht fest: Christchurch werde ich nicht loslassen – ich komme bald wieder...