Sightseeing auf die langsame Tour: Die 160 Kilometer lange Bahnfahrt von Ajaccio nach Bastia führt über wunderschöne Brücken und Dörfer

Der Bahnsteig ist voll, geduldig warten die Fahrgäste im korsischen Ajaccio auf den Zug. Auf dem linken Gleis steht ein Waggon, der sich seine letzte Fahrt ins Museum schon längst verdient hätte, gleichwohl schraubt ein Mechaniker eifrig an der Tür. Und dann rollt doch ein neuer Zug mit getönten Panoramascheiben, großzügigen Abteilen und modernen Sitzen heran. Gut so, schließlich wollen wir die französische Insel per Zug erkunden und sind froh, dass die Bahn jetzt wieder auf Qualität und Komfort setzt.

Die korsische Eisenbahn stand schon mehrmals vor dem Aus. Deutsche Flieger ließen 1943 einen Bombenhagel auf die Gleise nieder, woraufhin die Strecke an der Ostküste aufgegeben wurde. 20 Jahre später waren die Züge so veraltet, dass die französische Betreibergesellschaft beschloss, ihre Zuschüsse zu streichen. Nur der massive Protest der stolzen Korsen hielt den „Chemin de Fer de la Corse“ am Leben. In diesem Jahr feiert er seinen 125. Geburtstag und erlebt ein wahres Revival: Verbindungen wurden verdoppelt, der Takt verbessert, alte Waggons ausgetauscht, Gleise erneuert.

Die meisten Wanderer steigen am höchstgelegenen Bahnhof aus

Die Ansage im Abteil kommt jetzt vom Band und verkündet: „Der Zug verkehrt nach Bastia.“ Witzig, weil es ab Ajaccio nur diese eine Richtung gibt. Die Fahrgäste amüsieren sich noch darüber, als der Zug abfährt und eine kurze Sigthseeing-Tour durch die Stadt an der Westküste dreht. Es geht am Hafen entlang, zuerst lugen aufdringliche Yachten durchs Fenster, dann schieben sich rostige Industrie-Kräne ins Bild, die bald von Villen abgelöst werden. Schon ist der Zug im Grünen und nach wenigen Minuten steht fest: Das ist eine Live-Panoramashow Korsikas, dessen Wälder und Berge, Städte und Dörfer langsam vorbeiziehen, zum Rhythmus der holprigen Schienen, nur gelegentlich gestört durch einen Pfiff bei der Abfahrt am letzten Bahnhof.

Die Hauptroute zwischen Ajaccio und Bastia führt mitten durchs Zentralmassiv Korsikas. Für die 160 Kilometer braucht der „Trinighellu“ (der Zitternde) vier Stunden, meistert Anstiege bis zu 900 Meter, tuckert durch 38 Tunnel und rattert über 46 Brücken und Viadukte, darunter die „Pont du Vecchju“, die Gustave Eiffel geschaffen hat. Neben Eisenbahn-Freaks und Naturfreunden sitzen auch Touristen im Zug, die einen Tagesausflug in die nächste Stadt machen, weil ihnen die schmalen Straßen und die aufdringliche Fahrweise der Korsen auf den Geist gehen. Die meisten Wanderer steigen am höchstgelegenen Bahnhof in Vizzavona aus, flüchten aber gleich ins Café, weil der Nebel so dicht ist, dass man nicht mal den nächsten Baum sieht.

Jetzt kommt Arbeit auf Rosy Zagnoli zu, die seit 32 Jahren Bahnhofs-Vorsteherin, Restaurant-Chefin und Krisenmanagerin für Bergsteiger ist, die bei zweifelhaftem Wetter nach einer Alternative suchen. „Ich habe so viel erlebt hier, mich bringt nichts mehr aus der Ruhe“, sagt sie. Einmal gab es eine Schlägerei auf dem Bahnsteig um die wenigen freien Plätze im letzten Zug des Tages. Rosy schritt ein, bot Gratis-Drinks und kostenlose Übernachtungen an. „Dann haben wir durchgefeiert, bis am nächsten Tag der erste Zug kam.“ Rosy hat sich schon oft geärgert über Politiker, Funktionäre und Bahnchefs. Jeder habe etwas versprochen, um dem „Trinighellu“ auf die Beine zu helfen. Passiert sei nie etwas. Aber jetzt, da die korsische Bahn endlich unabhängig sei, ein neues Programm zur Förderung des Bahntourismus aufgelegt und die Verbindungen aufgestockt wurden, ist sie zuversichtlich. Auch den Wanderern macht sie Mut: „Immerhin regnet es nicht, und der Nebel verzieht sich schon noch.“ Derweil hat der Zug längst wieder Fahrt aufgenommen. Der Zielort Bastia liegt immer noch mehr als 100 Kilometer in südöstlicher Richtung. Aber nicht alle Passagiere wollen dorthin. Corte, der einst bedeutendste Ort Korsikas, wirbt verstärkt um Bahntouristen. Autofahrer lassen die ehemalige Hauptstadt in der Mitte der Insel oft links liegen.

Dabei ist sie mindestens einen Nachmittag wert. Mit ein bisschen Planung gibt der Zugfahrplan auch diesen Stopp her, und man erreicht am selben Tag trotzdem noch die Ostküste. Das Leben in Corte spielt sich auf drei Ebenen ab. Am besten nimmt man zu Beginn gleich den Fußmarsch bis zur Zitadelle auf sich, die hoch oben thront wie ein Adlernest. Bis weit hinein in die Seitentäler schweift der Blick, ehe er sich den Dächern der Altstadt zuwendet, die ein Stück weiter unten liegt. Dann beginnt mit einem Mal die moderne City. Fast nahtlos schließen sich die fruchtbaren Felder der Ebene an. In Corte steht die einzige korsische Universität. Jahrelang haben die Bewohner darum gekämpft, dass die Wissenschaftler und Studenten zu ihnen kommen. Mit demselben Engagement haben sie sich in den vergangenen Jahren auch für die Eisenbahn eingesetzt. Sie bringt vielleicht mehr Touristen als die Straße.

Als wir Corte mit dem Zug wieder verlassen, liegen die größten Steigungen bereits hinter uns. Der „Trinighellu“ schleppt sich auf seiner schmalen Spur nun über zahlreiche Brücken und Viadukte, neigt sich immer wieder zur Seite. Sogar Koffer purzeln durchs Abteil. Mit durchschnittlich 42 Stundenkilometern steuert er auf Bastia zu, das er erst erreicht, als selbst die Franzosen schon beim Hauptgang im Restaurant sitzen. Mit seinen zahlreichen Kneipen, Bars und Nachtclubs gilt Bastia als lebendigste Stadt der Insel. In der Nähe des Bahnhofs nehmen wir einen kleinen Imbiss. Es bleibt nur noch Zeit für einen kurzen Rundgang durch die eng gedrängten Gassen zu den romantischen Hafenanlagen. Am nächsten Morgen müssen wir früh raus, schließlich wollen wir das komplette Bahnnetz abfahren. In Ponte Leccia wird es interessant: Während die Fahrgäste auf den Anschluss nach Calvi warten, tuckert ein alter Waggon in den blau-weißen korsischen Farben heran.

Knarzend öffnet sich die Tür, drinnen riecht es nach Kunststoff und Käse. Offenbar hat jemand gerade ein Lunchpaket verputzt. Einige Passagiere reagieren erstaunt, gewöhnen sich aber schnell an den Charme des Abteils, das schon seit 40 Jahren Fahrgäste beherbergt. Weil es heiß ist im Zug, öffnet jemand das Fenster. In den modernen, klimatisierten Bahnen ist das gar nicht mehr möglich. Schon nach wenigen Sekunden strömt eine betörende Duftmischung aus Minze, Salbei, Majoran, Schnittlauch, Rosmarin und Lavendel herein. Korsika ist der größte Kräutergarten der Welt, schon Napoleon erzählte, er würde seine Insel am Geruch erkennen. Der Duft begleitet uns bis Calvi. Endstation für heute. Morgen geht es zurück nach Ajaccio. Hoffentlich mit einem alten Zug.