Wo sich die Donau ins Schwarze Meer ergießt, bildet sie das schönste Flussdelta Europas. Das Labyrinth an der rumänisch-ukrainischen Grenze lässt sich nur per Boot erkunden

Wer Aurora treffen will, muss früh aufstehen. Morgens um fünf steht der halbe Mond schon tief am Himmel, glitzert im dunklen Strom und bemalt den alten Leuchtturm von Sulina mit fahlem Licht. Langsam verklingt die Stille der Nacht. Wasser klatscht ans Boot, sonor brummelt der Außenborder. Wir sind weg vom großen Flussarm, mittendrin im Gewirr der Kanäle, in dem man sich selbst tagsüber leicht verirrt und nachts überhaupt keine Orientierung hat. Es geht vorbei an Seerosen, die sich bald öffnen werden, und säuselnden Meeren aus Schilf. Nun ist kein Antrieb mehr nötig: Lautlos treibt der Kahn in einer sanften Strömung Richtung Meer.

Geisterhände greifen nach dem Boot: Man muss sich ducken, damit die knorrigen Arme alter Weiden einen nicht ins Wasser stoßen. Im Dickicht raschelt es, dann beginnen die hier versteckten Vögel das erste Konzert des jungen Morgens. Noch ein paar Inselchen, dann tritt das Land zurück, bis nur noch Wasser zu sehen ist, glatt wie ein Spiegel. Hier, am äußersten Rand Europas, weit entfernt von der Zivilisation mit ihren geschäftigen Städten, ist der beste Ort für ein Rendezvous mit Aurora. Die Göttin der Morgenröte, Schwester des Sonnengottes Sol und der Mondgöttin Luna, tritt ohne Eile auf. Sie legt ein dezentes Rouge auf und färbt den Himmel im Osten. Dann entsteigt dem Schwarzen Meer ein Feuerball und verwandelt das gerade noch ölig-schwarze Wasser in flüssiges Gold.

Fast 3000 Kilometer fließt die Donau von ihrer Quelle im Schwarzwald bis zum Schwarzen Meer und ist damit nach der Wolga der zweitlängste Strom Europas. Im rumänisch-ukrainischen Grenzgebiet bildet der Fluss sein Delta, doppelt so groß wie das Saarland und wegen seiner Bedeutung als Zugvogelrastplatz Unesco-Weltnaturerbe. „Die Donau selbst, aber auch Auwälder, alte Seitenarme, Seen, Europas größte Schilfrohrgebiete, Urwälder und extreme Trockenbiotope auf Sanddünen: Hier bietet die Natur so viele Lebensräume, dass man von einem Wunder sprechen kann“, sagt Viorica Bîscă, Gouverneurin des rumänischen Biosphärenreservats Donaudelta. „Hier wohnen aber auch Menschen. Wir müssen also Naturschutz und nachhaltige Entwicklung vereinen, wenn wir die Region in ihrer Vielfalt erhalten wollen.“

Der Weg ins Donaudelta führt durch die Sonnenblumenfelder der rumänischen Region Dobrudscha nach Tulcea, einer Kleinstadt, in der sich bereits im Altertum Händler ansiedelten und in der auch die römische Flotte stationiert war. Gut 70 Kilometer Luftlinie entfernt vom Schwarzen Meer teilt sich die Donau hier in drei große Arme, die durch Kanäle, Sümpfe und Seen miteinander verbunden sind. Die weniger als 15.000 Bewohner des Deltas leben vom Fischfang, dem Ernten von Schilf für Reetdächer und mehr und mehr auch vom Tourismus. Sie wohnen in blauen Holzhäuschen in einer Handvoll Dörfer an den großen Mündungsarmen, denn ganzjährig trockenes Land gibt es kaum. Straßen findet man im Delta gar keine: Im rumänisch-ukrainischen Grenzgebiet regiert die Wildnis noch so wie fast nirgendwo anders auf dem Kontinent.

„Zuerst habe ich gedacht, das Delta sei ein verschlammter, stinkender Ort“, sagt George Panait schmunzelnd. Vor etwa 35 Jahren, da war er Student und verdiente sich als Guide im kommunistischen Rumänien ein paar Devisen, kam der heute 57-jährige Wasserbauingenieur zum ersten Mal für einen Tagesausflug ins Delta. „Ich war wie verzaubert: Es war nicht der schlimmste, sondern der schönste Platz im ganzen Land.“ Inzwischen hat der Naturfreund seinen früheren Beruf an den Nagel gehängt und verbringt fast das ganze Jahr im Donaudelta – nur nicht den Winter, denn da wird es ihm zu kalt. „Die Stille hier macht süchtig. Es gibt nichts Schöneres, als sich einfach treiben zu lassen und wilden Tieren so ganz nahe zu kommen.“

Sieht (und spürt) man nicht vor allem Milliarden von Mücken, die nur darauf warten, frisches Touristenblut zu tanken? „In der Morgendämmerung und am Abend beim Sonnenuntergang muss man sich im Hochsommer schützen – sonst wird es unangenehm“, sagt George Panait. „Doch im Frühling und Herbst, wenn die großen Vogelschwärme ziehen und die meisten Besucher anreisen, muss man sich wegen Stechmücken nicht viele Sorgen machen.“

Am Wochenende düst Bukarests Hautevolee im Speedboot durch die Kanäle, in denen theoretisch Geschwindigkeitsbegrenzungen gelten, an die sich aber kaum jemand hält. Die seltenen Störe werden, obwohl verboten, von Anglern aus dem Wasser gefischt. Und selbst in Schutzperioden liegen in den Seen Netze aus: Der Fisch wird illegal in die Städte verkauft, wogegen niemand einzuschreiten scheint. In den Dörfern verfallen die traditionellen Holzhäuser, während ein paar Meter weiter Pensionen aus dem Boden schießen – mehrstöckig und aus Beton.

Doch es geht auch anders. George Panait wollte keine x-beliebige Unterkunft an Land eröffnen. Er konstruierte ein Hausboot, die „Kingfisher“, mit großen Decks und neun kleinen Kabinen. Bei einer einwöchigen Tour durchs Delta schleppt er das schnuckelige Hotelschiff an drei einsame Liegeplätze: So lassen sich die Sehenswürdigkeiten ohne Zeitdruck mit einem kleinen Kahn erreichen, der kaum Benzin verbraucht und wenig Lärm verursacht. Bei vielen Angeltouren gilt das Prinzip „Fangen und Freilassen“, und auch sonst will er möglichst schonend umgehen mit seinem neuen Zuhause: „Wenn wir die Natur des Deltas erhalten, bleibt die Region einzigartig. Einen Freizeitpark findet man auch anderswo.“

Um sich zurechtzufinden, musste der 57-Jährige das Vertrauen der alten Leute gewinnen, erzählt der Guide. „Manche Seen liegen so versteckt, dass man sie einfach nicht findet. Ich habe mich oft mit Fischern betrunken, bis sie mir die schönsten Plätze verraten haben.“ Als das Wasser zu seicht wird für den Außenbordmotor, stochert der Guide per Paddel weiter. Der Kahn schiebt sich durch Seerosenfelder und dickes Wasserpflanzenbraun, vorbei an mächtigen Weiden und hohem Schilf. Ein Paradies für Vogelfreunde: „In einer Woche sehen wir 180 Arten – wenn es schlecht läuft. Im Frühling und Herbst sind es regelmäßig über 200.“ Enten und Reiher, Gänse und Schwäne sind auf Nahrungssuche; Kormorane sitzen im Geäst eines abgestorbenen Baumes. Und wenn man eine Weile still sitzt und keinen Laut von sich gibt, blitzt auch das bunte Gefieder von Eisvögeln und Blauracken durchs dichte Grün.

Dann gewähren auch die Könige des Deltas eine Audienz. Pelikane sind mit ihrer Flügelspannweite von fast drei Metern nicht nur elegante Segler. Sie jagen im Team und treiben die Fische dabei kollektiv in die Enge, um sie dann mit ihren mächtigen Schnäbeln aus dem Wasser zu schöpfen. „Hier leben mehr als 2500 Brutpaare – nirgendwo sonst in Europa findet man so viele Rosapelikane wie hier“, sagt Vogelexperte Panait. Dann lehnt er sich zurück, ein Lächeln auf den Lippen, um das Spektakel zu genießen: Im Donaudelta schenkt einem Mutter Natur nur die besten Erinnerungen.