Die berühmteste Kathedrale von Paris feiert ein bedeutendes Jubiläum. Ihr zu Ehren finden am 6. Mai weltweit 850 Orgelkonzerte statt

Es gibt nicht viele Gotteshäuser auf der Welt, vor denen Menschen Schlange stehen. Vor Notre-Dame tun sie es täglich, sie kommen von überallher, im vorigen Jahr waren es 20 Millionen. So viele Besucher hat nicht einmal der Eiffelturm. Und in diesem Jahr werden es noch mehr sein.

Es ist die Faszination dieser gotischen Kirche, die nach der Legende einmal einem abstoßend Verkrüppelten für kurze Zeit das Gefühl gab, geliebt zu werden – von einer Frau. Daraufhin machte er die Kathedrale zum Bollwerk und hielt den Feinden stand, die ihm und der Frau an den Kragen wollten. Die Romanze von Victor Hugo zieht bis heute Leute in ihren Bann. Der Roman „Der Glöckner von Notre-Dame“ erschien 1831 und präsentiert ein romantisch gefärbtes Bild des spätmittelalterlichen Paris, in dem die Liebe triumphiert. Der Bestseller wurde mehrfach verfilmt und zum Musical verarbeitet. Herz, Schmerz, Gewalt und Treue bis zum Tod sind Elemente, die Menschen über die Zeiten hinweg berühren.

Wer heute Notre-Dame betritt, hat es schwer, Bezüge zum Roman herzustellen. Es wird gedrängelt, Rucksäcke und Kameraobjektive stören den Blick, und Reiseführer zersägen mit lauten Erklärungen die Atmosphäre. Das erinnert an die Massenszene, mit der Victor Hugo sein Werk beginnen ließ.

Eine der letzten Gießereien Frankreichs fertigte neun neue Glocken an

Eine gewaltige Menschenmenge steht vor der Kirche. Im Rahmen eines Narrenfestes soll ein Theaterstück aufgeführt werden, dem auch der Kardinal von Bourbon beiwohnen will. Der hohe Herr lässt das Volk stundenlang warten, bis es keine Geduld mehr aufbringt und den Beginn des Sittenspiels erzwingt. Die Sprechchöre der Künstler setzen ein, ihre Gewänder werden bewundert. Das Stück beginnt, aber die Pariser sind gelangweilt. Bis jemand vorschlägt, einen „Narrenpapst“ zu wählen. Die Wahl fällt auf Quasimodo, einst missgestaltetes Findelkind, das zum Glöckner ausgebildet wurde. Er ist so hässlich, dass manche ihn gar nicht anschauen wollen. Im Spiel ist auch die Zigeunerin Esmeralda, die verteufelt gut tanzt. Und Quasimodo zu einer Irrsinnstat anregt: Er will die schöne junge Frau – in Jean Delannoys Film von Gina Lollobrigida verkörpert – entführen.

Er wird gestellt und zur Züchtigung am Schandpfahl verurteilt. Esmeralda hat Erbarmen mit dem Buckligen und reicht ihm Wasser. Bald darauf wird sie des versuchten Mordes bezichtigt und gesteht unter Folter. Am Tag ihrer Hinrichtung befreit Quasimodo die Schöne aus dem Kerker und gewährt ihr Kirchenasyl. Das Haus Gottes ist erbitterten Angriffen ausgesetzt. Die Tänzerin wird gefasst und gerichtet. Quasimodo stirbt aus Kummer an ihrem Grab.

Im Jubiläumsjahr hat man die Glocken, die Quasimodo zum Läuten brachte, aus dem Turmgebälk entfernt. In einer der letzten Gießereien Frankreichs wurden neun neue Glocken angefertigt, jede doppelt so groß wie ein Mensch und gülden blinkend. Am 23. März riefen sie zum ersten Mal zum Gebet. Sie klingen anders als die vom Buckligen bewegten – dumpfer, lauter.

Im Frühjahr 1163 hatte Papst Alexander III. auf der Seine-Insel Île de la Cité den Grundstein für die Kathedrale gelegt. Bischof Maurice de Sully wollte etwas ganz Großes. Das gelang nicht von der Größe her – mehrere französische Kathedralen sind höher und massiger –, aber von der Reputation. Der Kalksteinbau mit den 33 Meter hohen Zwillingstürmen entstand aus edlen Materialien und besetzt eine Toplage. Nach 20 Jahren stand der Chor, bald darauf das Langhaus. Darauf kam eine Bleiverdachung, die Fassaden erhielten reichen Schmuck. 1220 gab es den ersten Gottesdienst, der Ausbau der Kapellen dauerte noch. Der frühgotische Kirchenbau war ein Prachtwerk des Abendlandes – Pariser lieben, Zugereiste bewundern ihn bis heute ehrfurchtsvoll.

Der Innenraum gilt als eine der erhabensten Schöpfungen europäischer Architektur. Selbst bei Sonnenschein überwiegt feierlich gedämpftes Halbdunkel. 127 Meter lang ist die Halle, eine fünfschiffige Anlage. Der Chor ist ungewöhnlich tief, bei allen Veränderungen in den Jahrhunderten blieb er unverändert. Frühgotik mit glatten Säulen, vier Pfeiler in jeder Himmelsrichtung, ein sechsteiliges Rippengewölbe mit Jochen, eine nüchterne, praktische Konzeption. Prachtvoll sind dagegen die Fenster, die in allen Farben glühen, mit einem Grundakkord aus tiefem Blau. Die Muttergottes sieht aus wie eine visionäre Erscheinung, in eine Farben- und Lichtflut getaucht.

Wer Notre-Dame entlang der Fassaden abläuft, muss wissen, dass ihre Gestaltung eine Schöpfung des 19. Jahrhunderts ist. Mit überreichem Dekor verziert, die Skulpturen der Portale sind zu unterschiedlichen Zeiten entstanden. Eindrucksvoll ist das gotische Streben nach oben, der Bau ist zuerst dem Himmel und dann erst der Stadt zugewandt. Renaissance und vor allem Barock prägten deutliche Spuren an dem Kirchenbau, aber im Kern blieb die Gotik enthalten.

Die Pariser sind Notre-Dame immer treu geblieben. Seit 850 Jahren. Heute überlebt die Kathedrale als Touristenattraktion, aber sie ist immer noch die eindrucksvollste Kirche Frankreichs. Wer je unter dem bunten Rosettenhimmel Andacht hielt, wird das bestätigen.