Wo ist wirklich Deutschlands Zentrum? Gleich fünf Orte nehmen den Titel für sich in Anspruch. Eine Reise zum Nabel der Republik

Niederdorla, Flinsberg, Silberhausen, Landstreit, Krebeck – Jules Vernes berühmte Reise zum Mittelpunkt der Erde war ein Kinderspiel, verglichen mit einer Reise zum Mittelpunkt Deutschlands. Nicht weil er so schwer zu erreichen wäre. Da hilft die A 4 Hersfeld–Eisenach. Denn da, in der Nähe der Autobahn, liegt er irgendwo.

Das Problem ist indes dieses Irgendwo, denn es gibt gleich fünf deutsche Mittelpunkte im Land. Alle präzise berechnet von deutschen Gelehrten. Nur hatte jeder der Herren seine eigene Methode. Da wurde mit Laubsäge und Computer gewerkelt, punktiert, liniert, gelotet und vor allem natürlich gerechnet, zweidimensional, dreidimensional. Und so schmücken sich denn zumindest fünf Dörfer auf einer Fläche von etwa 1300 Quadratkilometern im Grenzbereich von Thüringen und Niedersachsen mit dem anspruchsvollen Titel: Wir sind die Mitte!

Das kleinste der fünf Dörfer hat nur 20 Einwohner

Die Verwirrung kam bald nach der Wende auf, als die bisherigen deutsch-deutschen Mittelpunkte, Rennerod im Westerwald (Bundesrepublik) und Belzig im Fläming (DDR), obsolet waren und Scharen von Forschern und Tüftlern wiedervereinigungsselig ihre Berechnungen zur neuen deutschen Mitte vorlegten und – wie soll es anders sein – dabei zu verschiedenen Ergebnissen kamen. Oft nur ein paar Kilometer voneinander entfernt, aber immerhin: vier Orte im Neubundesland Thüringen und einer in Niedersachsen, also im Westen.

Man muss sich die Namen der fünf kleinen Dörfer – das kleinste hat gerade mal 20 Einwohner – nicht merken. Man muss da nicht unbedingt hinfahren. Wir haben es trotzdem getan, aus Neugier. In Abwandlung des marxschen Mottos: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt drauf an, sie sich anzusehen.“

Doch zunächst zu den Interpretationen. Sie sind das eigentlich Lustige an der Geschichte. Den Vogel schießt ein pensionierter Lehrobermeister aus Gera ab, der die neu entstandene Bundesrepublik mit der Laubsäge aus einer Sperrholzplatte schnitt, diese dann an die Wand hängte und mit einem Lot von verschiedenen Eckpunkten aus den Mittelpunkt sozusagen erpendelte: Er kam auf Silberhausen.

Andere machten es sich einfacher, stellten die Platte auf eine Nadelspitze und balancierten so nach der Schwerpunkt-Methode den Mittelpunkt aus – auch Silberhausen. Aber was machten die Laubsägekünstler beispielsweise mit den Inseln? Ankleben?

Das Ganze ist ein wundersames Beispiel wissenschaftlichen Dünnbrettbohrens. Beispiele aus den Begründungen: „Nach dem Gesetz der Schwerkraft durchqueren die Lotkoordinaten aller Aufhängepunkte in einer geometrisch regel- oder auch unregelmäßigen Fläche, was die Bundesrepublik Deutschland in ihrem ausgeschnittenen Grenzverlauf ist, einen gemeinsamen Punkt. Dieser Punkt ist ihr Mittelpunkt!“ Oder wieder anders: „Als Messmethode wurde die sogenannte Vier-Punkt-Methode angewendet, bei der Linien durch die äußersten Punkte des deutschen Staatsgebiets – der nördlichste und südlichste Breitengrad sowie der westlichste und östlichste Längengrad – gelegt werden. Auf diese Weise entsteht ein Rechteck. Verbindet man die Ecken mit diagonalen Linien, kreuzen sich diese genau im Mittelpunkt des Rechtecks und damit im Mittelpunkt Deutschlands.“ Und zwar in Niederdorla. Einleuchtend.

Die Suche nach dem Ort Landstreit endete mit Wegweiser ins Nirgendwo

Aber es geht auch komplizierter. Geodäten der Universität Bonn belegten die deutschen Grenzen mit 428 Punkten und bestimmten per Computer als Mittelpunkt den Ort, der von allen diesen Grenzpunkten am wenigsten weit entfernt war – Flinsberg. Kollegen vom Geodätischen Forschungsinstitut München bedachten auch noch, dass die Republik ja keiner Sperrholzplatte, sondern wegen der Berge und Täler eher einem zusammengeknüllten Papier gleicht. Sie bügelten das dreidimensionale Computermodell sozusagen glatt und kamen auf Krebeck.

Genug der Theorie. Wir sind durch alle fünf Orte gefahren. Den mit dem schönen Namen Landstreit mussten wir fast eine Stunde lang suchen, haben ein halbes Dutzend Leute befragt und fanden am Ende nur einen Wegweiser ins Nirgendwo: zu einem Sägewerk, zwei gut abgeschirmten Villen am Waldesrand, zwei Pferden, fünf Schafen – und dem Ende des ausgebauten Weges.

Und die anderen Dörfchen? In vier haben wir brave Häuschen mit sauberen Straßen, gepflegten Vorgärten und hübsch verputzten Fassaden angetroffen – aber (am helllichten Tag) so gut wie keine Menschenseele. Bis auf jenen alten Herrn mit Krückstock auf einer Bank neben einem Mittelpunkt-Gedenkstein in Flinsberg, der so verwittert war (der Stein), dass man ihn nur mit Mühe entziffern konnte.

Man könnte jetzt ein Lamento über den Untergang des ländlichen Raumes oder präziser des (ost)deutschen Dorfes anstimmen – menschenleer, bis es wehtut –, aber es soll schließlich eine Vergnügungsreise werden. Und die Landschaft an sich, das Eichsfeld und Nordthüringen, ist äußerst angenehm zu befahren. Die Mischung aus Wiesen, Wäldern und Feldern, abwechslungsreich gewellt mit Hügelketten und weit einsehbaren Ebenen, ist typisch mittel(!)deutsch. Schön für die Augen und erträglich für die Radlerwaden, die sich den Nationalpark Hainich hinaufquälen wollen, „Deutschlands größtes Laubwaldgebiet“. Und dann die Städte: Bad Heiligenstadt, eine Entdeckung, die Thomas-Müntzer-Stadt Mühlhausen mit mittelalterlichem Stadtbild und einem interessanten Bauernkriegsmuseum. Und wen es etwas nach Westen abtreibt: Die Fachwerk-Idylle in Duderstadt ist auch nicht zu verachten. Und dann natürlich, wieder im Osten, Eisenach mit der weit ins Land hinein sichtbaren Wartburg.

Die wäre denn auch unser höchst privater Favorit, um den kuriosen Mittelpunktstreit würdig zu beenden. Die Wartburg als Symbol der deutschen Mitte: Sängerkrieg, Luther, die Bibelübersetzung, die einheitliche deutsche Sprache, die Wartburgfeste von 1817 und 1848. Und mathematisch, geodätisch, computer- wie laubsägemäßig wäre das sicher auch zu vertreten: Das Lot ein bisschen nach links gerückt, die Inseln oben angeklebt. Passt schon.

Das wäre denn auch der harmonische Schluss dieser kleinen Geschichte, gäbe es da nicht südlich von Mühlhausen auf 51° 09' 54" N, 10° 27' 19" E das Dörfchen Niederdorla, als Mittelpunkt – bestätigt vom Verband Deutscher Schulgeografen – ausgestattet mit einer Mittelpunkt-Linde, einem Mittelpunkt-Gedenkplatz und dito -Gedenkstein, einem Mittelpunkt-Gasthaus und, wenn auch nur alle zwei Jahre, einem Mittelpunkt-Gottesdienst. Da liegt die Mitte in guten Händen, geistlich wie touristisch. Wobei die hiesige Linde mit einem noch viel aufwendiger aufgemotzten „Germanischen Opfermoor“ konkurrieren muss. In Niederdorla geht man damit auf Nummer sicher: Die Mitte lässt sich ganz gut an Gedenktagen vermarkten – aber Moorleichen ziehen immer.

Anreise: Orientierungslinien sind die Autobahn A 4 beziehungsweise die Städte Eisenach, Mühlhausen, Heiligenstadt respektive von Westen aus Göttingen.

Unterkunft: z. B. Victor’s Residenzhotel Teistungen, tadelloses Vier-Sterne-Haus im Eichsfeld, Doppelzimmer mit Frühstück ab 93 Euro (www.victors.de); Brauhaus zum Löwen in Mühlhausen am Nationalpark Hainich, Doppelzimmer mit Frühstück ab 89 Euro (www.brauhaus-zum-loewen.de)

Info: zum Mittelpunktstreit: www.mittelpunkt-deutschlands.de; zur Gegend: Thüringer Tourismus Gesellschaft, Erfurt Tel. 0361/374 20, www.thueringen-tourismus.de.