Isla Tabarca vor Alicante: ein Leuchtturm, ein Fort, 20 Familien – und genauso viele Restaurants, die in der Saison das Geld fürs ganze Jahr einbringen

Jetzt im April spielen die Jungs noch Fußball in den Gassen zwischen den niedrigen Quaderhäuschen. Noch im Mai radeln die Mädchen mitten durch dieses Spielfeld von drei Metern Breite und gut 200 Metern Länge hindurch, einen Moment lang unterbrechen die Jungs dafür jedes Mal ihr Spiel. Anfang Juni sitzen die Alten noch auf wackeligen Holzstühlchen vor ihren in kräftigem Blau oder in Giftgrün getünchten Haustüren auf der Insel Tabarca. Danach sind sie alle verschwunden, einen Sommer lang bei Tag so unsichtbar wie der Mond – im Juli, im August, den halben September wie vom Erdboden verschluckt. Erst an den Abenden, erst zu Einbruch der Dunkelheit kommen sie wieder aus ihren Rückzugswinkeln hervor und erobern durch bloße Präsenz ihre Insel für die Stunden der Nacht zurück: die Strände, die Klippenküsten, die Agaven, die in prächtigem Rot und Orange blühenden Hartlaubgewächse entlang der Küsten.

Im Sommer, während der drei Monate der Saison, aber ist tagsüber kein rechter Platz für sie in den paar Gassen der einzigen Ortschaft: zu viel los auf Tabarca, zu viel Andrang auf die kleine Seefahrer- und Fischer-Insel elf Seemeilen vor der spanischen Mittelmeer-Küstenstadt Alicante – Hochsaison auf dem einstigen Piraten-Eiland, das heute vor allem von Tagesbesuchern lebt.

Erst wenn das letzte Ausflugsboot zurück zum Festland – nach Santa Pola, nach Guadamar, in den Stadthafen von Alicante oder nach Campello – wieder abgelegt hat und nur noch die Gäste der weniger als 20 Zimmer in zwei kleinen Hotels in den Straßen unterwegs sind, dann kommen auch die Einheimischen wieder vor, öffnen sich plötzlich Holztüren zu lauschigen Innenhöfen. Erst treten die Kinder der Tabarceños wieder heraus und bringen die Fahrräder und Fußbälle mit, dann die Eltern und Großeltern.

Nur Pensionäre und Kinder haben dann Zeit, die wiedergefundene Feierabendruhe zu genießen. Die meisten anderen sind dafür zu geschafft. Sie mussten tagsüber arbeiten, in den Restaurantküchen schuften, im Akkord kellnern, Boot fahren, Eis verkaufen. In jenen drei Monaten, wenn das Geschäft brummt und bis zu 3000 Tagesgäste über die Insel strömen, müssen sie das Geld für das ganze Jahr verdienen.

Es ist dann, als ob alles Mobiliar der Insel in den Straßen steht, jeder Tisch, jeder Stuhl, jeder Sonnenschirm. Die sonst so kleinen Restaurants wuchern auf Straßen und Plätze. Jedes Stück Stellfläche ist kostbar – und begehrt, wenn die vielen Badegäste der Playa Grande ihre Laken im Sand verlassen und zum Mittagessen herbeiströmen. Eisgekühlte Cola oder Bier gibt es dann. Oder Alicantiner Wein. Und dazu meistens gegrillten Fisch – fangfrische Dorade oder Rotbarbe zum Beispiel. Oder in seiner eigenen Tinte gegarten Octopus. Außerhalb des Sommers aber gibt es eindeutig zu viel Gestühl auf der Insel, die gerade mal 1800 Meter in der Länge und maximal 400 Meter in der Breite misst. Und zu viele Tische. Nicht mal einen halben Quadratkilometer ist Tabarca groß.

Salvador Diaz erinnert sich nicht mehr, wie oft er schon hergekommen ist. Er hat längst aufgehört zu zählen. Der stämmige kleine Mann mit der sonnengegerbten Gesichtshaut ist Berufspendler im wörtlichsten Sinn. An manchen Sommertagen schaut er gleich viermal vorbei. Seit mehr als 40 Jahren fährt er auf Ausflugsbooten, erst als Matrose, inzwischen längst als Kapitän. Auf See kennt er in seinem Fahrtgebiet jede Untiefe, an Land auf Tabarca jeden Kieselstein. „Weißt du“, sagt er, „hier auf dem Wasser bin ich zu Hause. Es ist mein Wohnzimmer. Die Insel ist mein Esszimmer, auch mein Garten. Da mache ich Mittagspause, da ruhe ich aus. Ich freu mich jedes Mal, wenn ihr Leuchtturm näher rückt, wenn die quadratische Festung, die mal Gefängnis war, in den Blick gerät.“ Sein Schlafzimmer aber ist Tabarca nicht. „Zu viel Einsamkeit, sobald die Tagesbesucher weg sind“, sagt er. „Zu still für mich.“ Er wohnt im elf Seemeilen entfernten Alicante auf dem Festland.

Es gibt andere, die extra bleiben, um die Stille dieser Abende zu erleben, um die Alten ihre Holzstühlchen vor die Türen stellen und die Kinder in den Straßen wieder Fußball spielen zu sehen oder um Abendandacht in der kleinen Inselkirche Iglesia San-Pedro-y-Paolo zu halten. Und in aller Ruhe mit Meerblick den Fisch zu essen, wenn die Kellner wieder Zeit haben – und auf Anhieb ein Platz zu bekommen war.

Die paar Zimmer auf Tabarca sind deshalb schnell ausgebucht: Weil es sich gut anfühlt, plötzlich für ein, zwei Nächte dazuzugehören und den Wandel der Insel mit den zwei Gesichtern aus der Nähe zu erleben. Dennoch lassen sich auch bei Tag in der höchsten Hochsaison noch stille Winkel finden, wo es sich in Ruhe sitzen, schauen und nachdenken lässt: mit den Beinen baumelnd auf der Festungsmauer an der Westküste der Insel zum Beispiel. Oder im kleinen Kirchgarten. Und auf dem unbesiedelten Nordzipfel jenseits der Strände, wo der Leuchtturm als Ausrufezeichen in den blauen Himmel ragt und die Festung gerade restauriert wird. Hier lässt es sich im Grünen picknicken, und das passende Konzert dazu spielen die Wellen, die ein paar Meter entfernt an den Felsen zerbrechen. Und aus der Ferne trägt der warme Levante-Wind Zeilen aus irgendeinem Song von Julio Iglesias herüber, der in den Boxen einer Bar eingesperrt zu sein scheint und deren Terrasse von dort aus mit Schmacht-Schlagern beschallt.

Jahrhundertelang war das Inselchen offiziell unbewohnt und inoffiziell ein Piraten-Unterschlupf in strategisch idealer Lage so knapp vor der spanischen Festlandküste. Nur etwa 30 Menschen leben heute ganzjährig auf Tabarca, mehr als 300 sind es im Sommer. Und manch einer behauptet augenzwinkernd, noch von den in der Mitte des 18.Jahrhunderts vertriebenen Piraten abzustammen. Er weiß, dass so ein Spruch gut ankommt – und dass sowieso nicht mal er selber sicher sein kann, ob etwas dran ist.

Im Jahr 1768 jedenfalls ließ König Carlos III. hier 600 genuesische Fischer ansiedeln, die er aus Gefangenschaft in der tunesischen Küstenstadt Tabarka freigekauft hat. Sie waren es, die dem Stückchen Felsen den ursprünglichen Namen Isla Plana nahmen, ihm den neuen gaben – und das Eiland Heimat werden ließen, Häuser bauten, es mit Leben füllten. Die Umgebung der Insel mit ihren noch kleineren NachbarEilanden Cantera, Nau und Galera ist heute als Meeres-Naturpark unter Schutz gestellt.

Die Lieblings-Jahreszeit von Kapitän Salvador Diaz? „Eindeutig“, sagt er – und macht eine kleine Kunstpause: „Der Winter.“ Die See könne dann zwar ganz schön kabbelig sein, die Überfahrt gegen den Wind und die Wellen deutlich länger dauern als üblich. Aber das Licht sei dann ganz besonders, die Stimmung so geheimnisvoll. „Wahrscheinlich ist es dann wie damals“, sagt er, „als niemand anderes als die Piraten hier zu Hause war.“

Und dann fügt er nach noch einer kleinen Kunstpause an: „Und der Sommer. Weil das Wetter einfach herrlich und richtig was los ist. Und Frühjahr und Herbst, weil sie von allem etwas haben.“ Jetzt grinst er.