Zwischen Eisriesen am Himalaja-Rand und Tropendschungel im Goldenem Dreieck: Yunnan ist landschaftlich wie kulturell Chinas abwechslungsreichste Provinz

Kunming, morgens um halb acht. Es ist unser erster Tag in dieser Sieben-Millionen-Metropole, Hauptstadt der Provinz Yunnan im Südwesten Chinas. Der Blick aus dem Hotelzimmer zeigt Hochhausschluchten, Autoschlangen, hastig trippelnde Menschen, die einen Mundschutz tragen, insgesamt eine triste Szenerie. Irgendwo muss auch die Sonne scheinen, aber sie dringt nicht wirklich durch den Grauschleier aus Dunst und Smog. Das also soll die „Stadt des ewigen Frühlings“ sein, „charmant und überschaubar“, wie sie im Reiseführer vorgestellt wird, der gerade mal sechs Jahre alt ist.

Einen Tag später, im Bambuskloster am Stadtrand, auf knapp 2000 Meter Höhe. Die roten Lampions und die grünen Ziegeldächer glänzen im Sonnenschein. Die Luft ist frisch, es duftet intensiv nach Blumen und Räucherstäbchen. Ältere Herren haben ihr Mah-Jongg-Brett auf eine Steinmauer gelegt und geben sich ihrem Spiel hin. Ein junges Mädchen bietet uns eine Handvoll Wassermelonenkerne an.

Eben noch Dreck und Hektik, und jetzt, wenig später, übertragen sich Ruhe und Gelassenheit auf den Besucher. Solche krassen Gegensätze sind typisch für Reisen durch das China von heute. Klischees, die gerade bestätigt worden waren, lösen sich binnen Stunden in Wohlgefallen auf. Orte der Harmonie wie der Tempel der Erlesenen Blume, ganz nah an der rasant wachsenden Stadt, wirken, als seien sie Vorbilder für Tuschzeichnungen aus dem alten China gewesen.

Wir sind mit einer Gruppe unterwegs in dieser Provinz, die ihren Anspruch auf Teilhabe am internationalen Tourismus gerade erst angemeldet hat, überraschend spät. Denn Yunnan, so groß wie Deutschland und Holland zusammen, ist vielfältig wie keine andere Region in China. Nirgendwo sonst lebt eine so bunte Schar kleiner Völker neben- und miteinander, die allesamt ihre Eigenarten, Religionen, Trachten, Sprachen und Schriften durch die Jahrhunderte und sogar über die Kulturrevolution hinweg bewahren konnten.

Und nirgendwo anders in China weisen auch die Lebensräume von Tieren und Pflanzen eine solche Vielfalt auf wie im „Land südlich der Wolken“, so die Übersetzung von Yunnan: im Norden die Ausläufer des Himalaja, die bis auf sechs- und siebentausend Meter ansteigen, davor Hochebenen, über die Nomaden mit ihren Yakherden ziehen. Im Süden hingegen, im Goldenen Dreieck zwischen Birma und Laos, dampft tropischer Dschungel, seit ewigen Zeiten ein Schlupfwinkel für Opiumschmuggler und gern verklärter Ort exotischer Geheimnisse.

Dazwischen grüne Hügel, Teeplantagen, Bambus und Regenwald, letzte Zufluchtsorte von Elefanten und Pandabären. Legendäre Flüsse, die als Rinnsale aus dem Himalaja kommen, mäandern durch gewaltige Felsschluchten und entwickeln sich noch in Yunnan zu den mächtigsten Strömen Asiens, allen voran der Jangtse, früher als Jangtsekiang berühmt, und der Mekong, die Lebensader ganz Südostasiens.

Raus aus Kunming, der Stadt, die Träume zerstört und zugleich Sehnsüchte weckt, nach dem ursprünglichen, dem anderen China, das sich denn doch leicht finden lässt. Schon 120 Kilometer nach Südosten verlaufen wir uns im „Labyrinth der Liebenden“, einer Karstregion, in der bizarre Felsnadeln dicht an dicht in den Himmel ragen. Shi Lin, Steinwald, heißt diese Märchenlandschaft, deren Formen an Bäume oder Pilze erinnern, an Pagoden und Drachen, vielleicht auch an die Silhouetten von Mao, Konfuzius oder an den eigenen Vater.

So ein Platz muss sagenhaften Ursprungs sein. Also erzählt man sich bis heute die Geschichte eines weisen Zauberers, dem ein Liebespaar klagt, nirgendwo Platz für sich allein zu finden. Prompt ließ er Gestein wie Mikado-Stäbchen auf die Erde fallen, und seither können Liebespaare im Schatten der schlanken Felsen ungestört turteln. Wer will da noch die geologische Erklärung für den Steinwald hören, Fakten über ein Meer in grauer Vorzeit, tektonische Verwerfungen, ausgewaschene Sedimente, Erosionen. Zwischen Lotusblumen-Gipfel und Schwertspitzen-Teich treffen wir erstmals auf Angehörige der sogenannten Minderheitenvölker. 55 soll es in ganz China geben, allein 36 davon in Yunnan. Hier, in der Gegend von Shi Lin, sind es blau und schwarz gekleidete Sani-Leute, eine Untergruppe der Yi. Sie bauen Reis an und Tabak und treffen sich mehrmals im Jahr im Labyrinth der wundersamen Kegel und feiern dort, wie sie es seit Jahrhunderten gewohnt sind, mit ihren Ahnen, mit guten Geistern und Göttern farbenfrohe Feste.

Kurz vor Sonnenuntergang glühen die Felsnadeln dunkelrot auf und werfen magische Schatten. Auf einer Lichtung, etwas abseits des steinernen Waldes, genießen Chen Xulu und Dai Liming das Schauspiel. Sie gehören zum Volk der Dai, das weitläufig mit den Thai verwandt ist. Mit dem Überlandbus waren sie Tag und Nacht unterwegs, um den Steinwald zu sehen; für ein paar Stunden der Zweisamkeit haben sie sich von ihrer Reisegruppe getrennt. Nächste Woche wollen sie in Jinghong, weit im Süden Yunnans, nach alter Väter Sitte heiraten: Chen, der Ingenieur und Dai, die Lehrerin.

Knapp zwei Stunden Flug über tiefgrünes Land und schroffe, braune Bergwildnis, und plötzlich sind wir, sozusagen offiziell, im verloren geglaubten Paradies gelandet, auf weit über 3000 Meter Höhe. Shangri La heißt unser Ziel, ein Ort, den noch vor ein paar Jahren unter dem alten Namen Zhongdian kein Mensch kannte. Jetzt, unter dem neuen Begriff, ist vor allem die Altstadt ein Touristenmagnet für Chinesen und für Ausländer, die dem Mythos Shangri La auf die Spur kommen wollen.

Der englische Autor James Hilton hat sich vor 80 Jahren diesen Namen ausgedacht, der zum Symbol für ein Land ewiger Glückseligkeit und großer Geheimnisse wurde, Schauplatz seines vielfach verfilmten Romans „Der verlorene Horizont“. Hilton hat ihn irgendwo im Südosten der Himalaja-Berge verortet, vielleicht hat er ja wirklich die Gegend um Zhongdian gemeint. Der Bürgermeister der abgelegenen Stadt jedenfalls beschloss, dass seine Gemeinde das wiedergefundene Paradies sei und also Shangri La heißen muss.

Mehr als 700 Mönche leben im benachbarten Kloster Songzanlin, dem größten tibetisch-buddhistischen Tempelkomplex in Yunnan. Lichte Innenhöfe, in denen sich die Lamas auf eine Zigarette treffen, dunkle Altarräume voller Dämonenfiguren, vor denen sich Frauen und Kinder auf den Boden werfen. Beide, Mönche und Pilger, schenken dem Besucher ein neugieriges Lächeln und ein „Tashi Delek“, ein freundliches Willkommen.

Szenen einer abenteuerlichen Reise: Zu Gast auf ein Tässchen Buttertee in einem Dorf im Ken-Ba-Gebiet, in dem viele ältere Frauen noch mit zwei oder drei Männern leben, wie es früher im Norden Yunnans üblich war. Den Atem anhalten im Tal des Goldenen Sandflusses, wie der Jangtse an seinem Oberlauf heißt. Den alten Legenden um die Tigersprungschlucht bei Lijiang folgen, in den Dörfern vor der grandiosen Kulisse der Jadedrachenberge die bestickten Kleider der Naxi-Frauen bestaunen, die hier das Bild auf den Straßen und Feldern bestimmen.

Schließlich Jinghong im Süden, eigentlich als Ausgangspunkt unserer Fahrt auf dem Mekong vorgesehen. Aber wir werden einen Umweg über Land machen und mit dem Bus durchs Dreiländereck fahren müssen, um in Mohan nach Laos auszureisen. Ob es wirklich am niedrigen Wasserstand lag, wie die Behörden behaupteten, die uns die Fahrt mit dem Schnellboot an die Grenze nicht erlaubten, oder, viel wahrscheinlicher, an Problemen im Goldenen Dreieck, Jagd auf Drogenschmuggler, Kleinkrieg irgendwelcher Banden, wir haben es nie herausgefunden. Jedenfalls erreichen wir, nach drei Tagen voller Überraschungen, den Flussdampfer, der uns bis tief hinein nach Laos bringen wird.

Aber das ist schon der Beginn einer anderen Geschichte, die in diesem fast vergessenen Land spielt, das einmal Lane Xang hieß, „Königreich der Million Elefanten.“