Lange Zeit wurde Siziliens Hauptstadt von der Mafia beherrscht. Nun haben die Bewohner sie zurückerobert. Palermo hat sich wiederentdeckt.

Der Mann fährt wie einer, der es der Welt zeigen will. Im Slalom überholt er rechts und links, als säße Schumacher persönlich am Steuer. Vespafahrer jeden Alters kämpfen um jeden Zentimeter freien Asphalt – ohne Rücksicht auf Fußgänger zu nehmen. Genervt wettert ein älterer Mann, der sich durch die Blechkarawane einen Weg zu bahnen versucht. Ein Taxichauffeur schimpft zurück. Alles ganz normal! Fremde aber müssen sich an das rasante Tempo erst einmal gewöhnen.

Palermo ist keine leicht zu erobernde Stadt. Irritiert steht der Besucher vor einem Mix von Kulturen, die er auf den ersten Blick oft nicht zu entschlüsseln vermag. Ist San Cataldo mit ihren rosafarbenen Kuppeln, vor der die Leute für einen Hochzeitstermin Schlange stehen sollen, nun eine Kirche? Oder vielleicht nicht doch eine Moschee?! Wieso sind in der Altstadt eigentlich manche Straßen arabisch beschildert?

Selbst die Palermitaner tun sich in Sachen Kunst und Geschichte schwer. Denn ob Elymer, Griechen, Römer, Byzantiner, Normannen oder Spanier: Sie alle haben Siziliens Geschichte mitgeschrieben. Bereits im achten Jahrhundert v. Chr. war Palermo eine phönizische Handelskolonie. Erst als die Araber die Inselmetropole Anfang des neunten Jahrhunderts zur Hauptstadt ihres sizilianischen Emirats machten, erwachte die Stadt zu wahrer Blüte.

Die Araber bauten Lustschlösser und an die 300 Moscheen – und legten Zitrushaine an, die Palermo den schmeichelhaften Beinamen Conca d’Oro, die goldene Muschel einbrachten. Reisende jener Epoche verglichen „Balarm“ mit Córdoba und Kairo. Noch die normannischen und staufischen Könige engagierten islamische Architekten, um ihre glanzvollen Residenzen und monumentale Kirchen zu errichten. Sie sind heute die Hauptattraktion für einen langsam, aber ständig wachsenden Tourismus.

Palermo hat sich wiederentdeckt. Noch vor wenigen Jahrzehnten machten Sizilienreisende einen weiten Bogen um die von der Mafia gebeutelte Stadt. Wer die Kapitale dennoch in sein Programm mit einschloss, stand in tristen Gassen vor verriegelten Gotteshäusern und verfallenen Adelspalästen mit einst prächtigen Innenhöfen, die nun als Müllhalden dienten. Das Teatro Massimo, eines der größten Opernhäuser Europas, war über 20 Jahre „wegen Renovierung“ geschlossen. Unzählige Projekte zur Stadtsanierung kamen über die ersten symbolischen Arbeiten kaum hinaus. Die Zuschüsse für den Wiederaufbau aus Rom und Brüssel verschwanden in den Taschen korrupter Bauunternehmer, die mit käuflichen Stadträten und Bürgermeistern unter einer Decke steckten. Bis mit dem Anschlag auf die Untersuchungsrichter Borsellino und Falcone, 1992, die Toleranzgrenze der Palermitaner endlich überschritten war. Eine rasch anwachsende Anti-Mafia-Bewegung brachte neue Gesichter und vor allem einen kompromisslosen Bürgermeister ins Rathaus. Der – wenn auch längst noch nicht abgeschlossene – Kampf für eine neue Gesellschaftsordnung begann.

Nach und nach wurden Teile der Altstadt saniert, die Straßen erleuchtet und gepflastert. In ehemalige Adelspaläste zogen Galerien und Luxushotels, die ein wenig Gattopardo-Atmosphäre vermitteln, ein. Couragierte Wirte eröffneten neue oder restaurierten alte Restaurants. Vor dem Teatro Massimo stehen heute Kutschen für Touristen bereit. In den Cafés auf dem Opernplatz schlürfen die Gäste gemütlich ihren Cappuccino oder Martini. Frühabends, wenn die Boutiquen und Banken in der Viale della Libertà, einer der feinsten Einkaufsstraßen in der Neustadt, geschlossen sind, treffen sich hier die Jugendlichen. Sie tragen Trend-Fashion und tippen pausenlos SMS in ihre Handys, während diskutiert wird, ob man den Abend in einer der zahlreichen kleinen Trattorien verbringt oder von Kneipe zu Kneipe zieht. Meist in der Altstadt.

Wer in der sizilianischen Kapitale nach einem typisch palermitanischen Lokal fragt, wird zweifellos ins Centro storico geschickt. In der Antica Focacceria San Francesco gibt es in schönstem Jugendstilrahmen schon seit 150 Jahren Brötchen mit gesottener Kalbsmilz und anderen Innereien oder Fladenbrot aus Kichererbsen. Als Insidertipp gelten auch die Straßenrestaurants in der Via Torremuzza, in denen sich der Gast den fangfrischen Fisch selber aussucht und neben seinem Tisch auf glühender Holzkohle grillen lässt. Ein paar Hausnummern weiter werden in einem Hoftheater abends Volkslieder in sizilianischem Dialekt aufgeführt.

Palermos multikulturelles Erbe erlebt man vor allem auf seinen historischen Märkten Ballaró und Vucciria hautnah. Die sich zwischen knatternden Mopeds drängelnden Kunden sind von Herkunft und Aussehen her ebenso bunt zusammengewürfelt wie die Fisch- und Gemüseverkäufer. Sie preisen ihre Ware mit der sogenannten „abbanniata“, dem Ruf der Händler, an. Es ist ein Singsang, der ein wenig an den Ruf des Muezzin im Vorderen Orient erinnert. In den umliegenden Gassen sind seit Generationen die Blechschmiede, die Schreiner – und Schwarzhändler zu Hause. Die Straßen dienen ihnen als Schaufenster. Die meisten Billigwaren aber kommen inzwischen auch hier aus China oder Indien.

Doch es gibt sie noch, die echten palermitanischen Sattler, Schneider und Krippenbauer. Sie arbeiten in den großen Einkaufsstraßen oft in leicht übersehbaren kleinen Läden, die gleichzeitig Werkstatt sind. Kunstvolle Krippenfiguren, Taschen, Gürtel, Kopfbedeckungen samt karierten Schirmmützen, einst „Label“ der „ehrenwerten Gesellschaft“ – alles wird nach individuellen Wünschen und vor den Augen des Kunden angefertigt. Die Altstadt scheint verwirrend, doch wirklich verlaufen kann man sich kaum. Es gibt zahlreiche Orientierungspunkte, wie die Kathedrale mit den Königsgräbern oder die von roten Kuppeln gekrönte Kirche San Giovanni degli Eremiti. Kaum zu übersehen ist der Normannenpalast mit der Cappella Palatina, ein von byzantinischen, arabischen und normannischen Baumeistern geschaffenes einzigartiges Gesamtkunstwerk. Er gehört zum touristischen Pflichtprogramm.

Beliebter Treffpunkt ist die Straßenkreuzung Quattro Canti, Vier Ecken, wegen ihrer barocken Inszenierungskunst auch „il teatro“ genannt. Sie teilt die Altstadt in vier annähernd gleiche Teile. Die belebte Shoppingmeile Via Maqueda führt schnurgerade an der Via Principe di Belmonte vorbei. Eine Oase im Herzen der besseren Gegend der Bourgeoisie – mit dem ältesten Kaffeehaus der Stadt, das mittags von Anwälten, Professoren und Touristen besucht ist. In den Cafés und Lokalen im Freien dudeln Lieder von Eros Ramazzotti und Cheb Khaled. Die Geschichte als Bestandteil des modernen Alltags ist in Palermo überall präsent.