Von Peru war schon 1898 der norddeutsche Ingenieur Hans Hinrich Brüning begeistert. Eine Rundreise zeigt: Der Besuch lohnt sich noch immer

Der Mann fällt im Stadtbild von Lima auf - weniger weil er Europäer ist, sondern weil er einen fotografischen Apparat bei sich trägt. Von Zeit zu Zeit stellt er das Stativ auf, befestigt darauf seine Plattenkamera, verschwindet unter einem schwarzen Tuch und macht eine Aufnahme. Im Dezember 1898 ist Hans Hinrich Brüning 50 Jahre alt; er ist eine stattliche Erscheinung mit energischem Blick, zurückgekämmtem Haar und einem Schnurrbart, wie es der Mode entspricht. Am 9. Oktober hat er im Hamburger Hafen ein Schiff bestiegen, das nach vier Wochen Callao, den Hafen der peruanischen Hauptstadt Lima, erreicht. Nun nimmt er sich zwei Monate Zeit, um den Sommer in der Metropole zu verbringen, Kontakte zu pflegen und die Bräuche der Weihnachts-, Neujahrs- und Karnevalsfeiern mit Notizbuch und Kamera zu dokumentieren. Erst dann wird der aus der Nähe von Bordesholm stammende Ingenieur wieder an die Nordküste fahren, wo er auf einer Hazienda als Verwalter tätig ist. Doch das ist nur sein Brotberuf, viel mehr interessiert sich Brüning für Geschichte und Kunst des Landes, Bräuche seiner Bewohner, vor allem aber für Zeugnisse der voreuropäischen Kultur, die er erforscht, wo immer es ihm möglich ist. Einen wichtigen Teil seiner Sammlung wird er später dem Hamburger Museum für Völkerkunde vermachen, darunter den unschätzbaren Bestand an Fotografien.

Jetzt klappt er das Stativ zusammen, läuft durch Altstadtgassen und erreicht wenig später die Plaza de Armas, Perus prächtigen Hauptplatz, der heute Plaza Mayor heißt. Hier stehen der Regierungspalast, das Rathaus, das Erzbischöfliche Palais, daneben erhebt sich die doppeltürmige Kathedrale - einer der eindrucksvollsten Sakralbauten ganz Lateinamerikas. Brüning steigt die Stufen hinauf, betritt das Gotteshaus, das ursprünglich aus dem 16. Jahrhundert stammt, aber nach Zerstörung durch das große Erdbeben von 1746 fast komplett neu erbaut werden musste. Er wendet sich nach rechts, betritt eine Seitenkapelle und betrachtet einen gläsernen Sarg, in dem die verschrumpelten Gebeine eines Mannes liegen, für den er nur Verachtung empfindet. Ein Schild weist darauf hin, dass es sich um Francisco Pizarro handelt, den Konquistador, der das Reich der Inka mit viel Grausamkeit unterworfen und dabei eine ganze Kultur zerstört hat. Er ist der Gründer von Lima. Brüning interessiert sich seit Langem für die Inka und die früheren Kulturen, Pizarro ging es nur um Goldgegenstände, die er allein nach dem Materialwert beurteilte.

Mehr als ein Jahrhundert später stehen auch wir in der rechten Seitenkapelle der Kathedrale von Lima und erfahren, dass Brüning damals gar nicht Pizarros Gebeine gesehen hat, sondern wohl die eines unbekannten Spaniers. "Als man die Knochen im 19. Jahrhundert fand und unter Glas zur Schau stellte, irrte man sich. Pizarros echte Knochen sind erst 1977 bei Grabungen unterhalb der Krypta entdeckt und hierhergebracht worden", sagt unser Guide Franz Alarcón und zeigt auf einen Sarkophag, der aber glücklicherweise keine Glasscheiben mehr hat.

Den Heldenkult um Pizarro findet der Guide merkwürdig und unangebracht, trotzdem warnt er vor einer eindimensionalen Sicht der Geschichte. Was er damit meint, erfahren wir eine Stunde später im Museo Rafael Larco Herrera. "Man kann nicht sagen, dass die Inka gut und die Spanier schlecht gewesen wären, denn die Rollen in den Machtkämpfen der Geschichte haben oft gewechselt", sagt Alarcón und führt uns durch Säle mit der landesweit größten Privatsammlung präkolumbischer Artefakte. Zu sehen sind kunstvolle Keramiken verschiedener Kulturen, darunter eine Sammlung mit erotischen Darstellungen, Textilien, kultische Gegenstände, Waffen, Masken aus Gold. "Im 15. Jahrhundert waren die Inka diejenigen, die andere Völker unterworfen und erobert haben", sagt der Guide und zeigt uns Goldschmiedearbeiten der Chimú-Kultur, die von den Inka geraubt wurden.

Mehr davon könnten wir in dem berühmten Museo Arqueológico Brüning sehen, das der norddeutsche Ingenieur und Archäologe 1921 mit seinen eigenen Beständen eröffnet hat. Doch es liegt in Lambayeque im Nordwesten, während wir nach Südosten fliegen, nach Puerto Maldonado, ins Amazonasgebiet. Am Ufer des Rio Madre des Dios wartet ein schmales Motorboot, das uns in einer Viertelstunde zur Hazienda Concepción bringt, einer ökologisch geführten, stilvollen Lodge im tropischen Regenwald. Am Abend geht es noch einmal per Boot auf den Fluss, wo wir Kaimanen begegnen sollen. Die sind nirgends zu sehen, dafür treffen wir auf deren Lieblingsspeise. Es sind Capybaras, die mit Meerschweinchen verwandt sind und zu den größten lebenden Nagetieren zählen. Im Scheinwerferlicht unseres Bootes bewegen sie sich so possierlich, dass wir ganz froh sind, weit und breit keinen Kaiman zu entdecken.

Ganz früh am nächsten Morgen wecken uns in der Lodge Heerscharen von Brüllaffen - mit infernalischem Geschrei erweisen sie ihrem Namen alle Ehre. Per Boot geht es ins Nationalreservat Tambopata, nach einem einstündigen Fußmarsch durch den Urwald ist der idyllisch gelegene Sandoval-See erreicht, den wir per Einbaum-Kanu erkunden. Tropische Vögel sitzen in den Bäumen, und bunte Schmetterlinge umschwirren unser Boot. Von Zeit zu Zeit entdecken wir in Ufernähe einen jener Riesenotter, die vom Aussterben bedroht sind, hier aber ungestört leben können. Nachmittags erkunden wir in 28 Meter Höhe die Urwaldwipfel auf einer wackeligen, 200 Meter langen Hängebrücke, auf der uns ein Biologie-Professor der Uni von Puerto Maldonado die farbenprächtige Vogelwelt erklärt.

Die Provinzhauptstadt liegt auf knapp 200 Metern über dem Meeresspiegel, das nur eine Flugstunde entfernte Cusco auf 3500 Metern. Trotz Matetee und anderer Heilmittel fällt die Höhenanpassung vielen Reisenden schwer. Eigentlich sollte man das langsamer angehen, aber der knappe Zeitplan lässt das nicht zu. Wer Kreislaufprobleme hat, verpasst eine Menge, denn in der alten Inka-Stadt, die schon seit 1983 zum Unesco-Weltkulturerbe gehört, gibt es unendlich viel zu sehen. Dass sogar ein Erdbeben sein Gutes haben kann, erwies sich 1950, als die auf den Ruinen des Sonnentempels der Inka errichtete Iglesia de Santo Domingo einstürzte. Seither sind an einigen Stellen wieder die Grundmauern des Tempels sichtbar, dessen Wände die Inka teilweise mit Goldplatten versehen hatten. Das ist natürlich längst verschwunden, eingeschmolzen und nach Spanien gebracht worden. Wie sich aber spanische Pracht mit der Kunst der Inka verbindet, kann man beim Besuch der Kathedrale sehen, denn der riesige Sakralbau ist überwiegend von einheimischen Künstlern erbaut und künstlerisch ausgestaltet worden. An manchen Stellen haben sie eigene Mythen in die Darstellung der christlichen Lehre der Kolonialmacht einfließen lassen.

Die meisten Besucher von Cusco schließen einen Besuch im Vale Sagrado, dem Heiligen Tal der Inka, an. Sie besichtigen die Ruinenanlage von Ollantaytambo und besuchen die erst 1911 von dem Amerikaner Hiram Bingham "entdeckte" Inka-Stadt Machu Picchu. Tatsächlich waren schon andere Abenteurer vor ihm dort gewesen, zum Beispiel der deutsche Vermessungsingenieur Christian Bues. Aber erst Bingham, der eine Expedition der Yale University leitete, begann mit der Erforschung der Inka-Stadt, die den Zerstörungen der Spanier entgangen war.

Eigentlich gibt es nur zwei Möglichkeiten, zu der wichtigsten Touristenattraktion Perus zu gelangen: entweder zu Fuß, allerdings mit Gepäckträger, drei Tage und zwei Nächte auf dem beschwerlichen, aber höchst eindrucksvollen Inka-Trail, oder von Cusco aus auf einer Panoramatrasse mit dem Zug. Allein das sorgt dafür, dass täglich nicht mehr als 2500 Menschen diese faszinierende Stadt betreten, die bis heute zahlreiche Rätsel aufgibt. Wer es besonders stilvoll mag, nimmt "Hiram Bingham", den auf den Stil der 1920er-Jahre getrimmten Luxuszug, der von Peru-Rail und Orientexpress betrieben wird.

Wir verlassen Cusco aber per Bus Richtung Südosten auf einer atemberaubenden Gebirgsstraße durch das Andenhochland, die an ihrer höchsten Stelle knapp 4300 Meter erreicht. Nach sechsstündiger Fahrt sind wir in Puno, der am Ufer des Titicacasees gelegenen Provinzhauptstadt, angelangt. Der Lago Titicaca liegt 3800 Meter über dem Meeresspiegel und gehört im westlichen Bereich zu Peru, im östlichen zu Bolivien. Noch immer gibt es nicht weit von Puno etwas mehr als 40 schwimmende Inseln, die von Angehörigen der Urus bewohnt werden. Ursprünglich hatte sich dieses Volk seine Inseln aus Totora-Schilf gebaut, um sich auf dem See vor den heranrückenden Inka zu schützen. Bis heute leben sie unter archaischen Bedingungen auf den künstlichen Inseln, die ständig ausgebessert werden müssen und bis zu 30 Jahre halten, vor allem als Fischer. Inzwischen ist auch der Tourismus zu einer wichtigen Einnahmequelle geworden, täglich bringt ein Highspeed-Boot Besucher auf eine der Inseln, deren Bewohner sich in ihren bunten Trachten zeigen, mehr oder weniger geschmackvolle Souvenirs verkaufen und Touren auf ihren Schilfbooten anbieten.

Etwas weiter östlich, dicht an der Seegrenze zu Bolivien, liegt die Insel Taquile, deren Bewohner besonders farbenprächtige Kleider tragen. Vom Ufer aus geht es erst einmal mehrere Hundert, auf dieser Höhe im wörtlichen Sinn atemberaubende Stufen hinauf in das Dorf, das mit seinen Ausblicken auf den See geradezu mediterran anmutet. Berühmt sind die Männer von Taquile, die man überall mit Strickzeug in der Hand sieht. Sie sitzen auf Bänken oder Steinmauern, sind enorm fingerfertig und finden ihre Handarbeit ganz und gar männlich. Ein alter Herr, der sich für ein paar Sol fotografieren lässt, erzählt, was Knaben zu leisten haben, bevor sie als Männer akzeptiert werden: "Sie müssen eine Mütze mit ganz engen Maschen stricken. Wenn wir einen Eimer Wasser hineinschütten, muss die Mütze dicht halten." Was ist mit denen, die das nicht hinbekommen? "Irgendwann lernt es jeder", sagt er lächelnd, "die Jungs wollen doch heiraten."

Theophil ist verheiratet, kann aber bestimmt nicht stricken. Er ist Bauer und wohnt nicht auf Taquile, sondern unweit von Puno auf seinem kleinen Hof, der wie eine Kulisse zu Sergio Leones "Spiel mir das Lied vom Tod" aussieht. Ein einsames Gehöft mit Ziehbrunnen, ein kleiner Stall für ein paar Ziegen und Alpakas, ein spartanisches Wohnhaus und viel Himmel bis zum Horizont, wo sich die Gipfel der Anden auftürmen. Theophil zeigt uns seine Töchter und seine Frau, die freundlich lächelt, obwohl sie krank ist und - wie Theophil ganz nüchtern erklärt - nicht mehr lange leben wird. "Erst wird man krank, dann stirbt man", meint der Bauer, der nie auf die Idee kommen würde, im Krankenhaus nach Hilfe zu fragen. Weder für die Ehefrau noch für sich selbst oder die Kinder. Schicksal ist Schicksal, und das Krankenhaus kostet Geld, das niemand hier hat.

Dann lädt er uns zum Spielen ein und zeigt sechs kreisförmig angeordnete Papphäuschen, die jeweils mit einer Nummer versehen sind. Während wir uns für eine Zahl entscheiden und auf den entsprechenden Kasten ein paar Sol-Scheine legen, rüttelt Theophil einen Pappkarton, unter dem ein Meerschweinchen ausharrt.

Als er den Karton anhebt und es freigibt, torkelt es erst ein wenig, bevor es recht zielstrebig im Häuschen mit der Nummer sechs verschwindet. Rein zufällig hatte Theophil seinen Schein dort hingelegt, weshalb er jetzt schmunzelnd den gesamten Einsatz einstreichen kann. Das Cuy-Spiel ist in Peru seit Langem beliebt, und wahrscheinlich hat schon Hans Hinrich Brüning vor 100 Jahren dabei ein paar Geldscheine verloren. Vielleicht gibt es im Bestand des Hamburger Völkerkundemuseums sogar Fotos, die der Wahl-Hamburger in jener Zeit von diesem bäuerlichen Vergnügen gemacht hat.