Vor 50 Jahren weckte Neckermann die Lust der Deutschen auf den Pauschaltourismus und veränderte Europas Küstenlandschaften

Rollfilmkamera, Küchenquirl, Gardinen, Mundharmonika, Ziegenleder-Hosenträger ... 1000 praktische Dinge wurden im Neckermann-Katalog angeboten. Regelmäßig im Frühjahr steckte er im Briefkasten von Wolfgang Doseks Eltern in Frankfurt. So auch 1963 - der 21-Jährige, gerade fertig ausgebildet als Großhandelskaufmann, wohnte noch zu Hause. Dieses Mal aber, vor 50 Jahren, flatterte aus dem stattlichen Band ein dünnes Heftlein heraus, mit farbigem Titelbild, Format DIN A5, nur sechs Seiten. Vorn drauf eine Urlauberin, die entspannt auf eine Bucht unter Pinien hinabblickt. Lautstark durchkreuzt war das malerische Foto von einem hineinmontierten Flugzeug, viermotorig. Das schreckte niemanden, im Gegenteil. Die Vickers Viscount gehörte zum traumhaften Angebot: "Sie haben die Wahl", hieß es da, "Mallorca, Tunesien, Costa del Sol, Schwarzes Meer, Montenegro, Dalmatien." Die große weite Welt stand dem jungen Dosek da offen. Was er nicht wusste: Er hielt etwas in den Händen, was bald schon die Freizeit, den Jahresrhythmus, die Träume der Deutschen verändern, was mithelfen würde, den Kirchturmhorizont der Nachkriegszeit zu überwinden.

Der Bundeskanzler hieß Konrad Adenauer, an den Unis waren die Studenten per Sie. Umbrüche aber bahnten sich an. Die Welt wurde schneller und kleiner. Der Tachometer des VW-Käfer ging jetzt bis 140 km/h statt 120. Die Fußball-Bundesliga, die im Herbst in die erste Saison gehen sollte, ließ Alpenländler und Hansestädter zusammenrücken. Zu all dem passte, dass die Menschen nun manchen Spargroschen, den sie seit einem Jahrzehnt Wirtschaftswunder ansammeln konnten, auch mal in Reisen steckten. Die Ersten wagten sich in die Ferne, nach Rimini zum Beispiel, mit der ganzen Familie, Koffer auf dem Autodach. Zwei Tage Anfahrt, ein Zimmer würde sich schon finden.

Auch Dosek gehörte zu denen, die jetzt weiter weg wollten. Im Jahr zuvor, 1962, war es schon an die Costa Brava gegangen, sein erster Auslandsaufenthalt. Zwei Tage mit dem Bus durch Hunderte Ortschaften. In Lyon hatte sich der Fahrer rettungslos verfahren. Und jetzt dieser Katalog: Mallorca! Mit dem Flugzeug im Spätsommer, 15 Tage Vollpension für 350 Mark. Gerade 400 Mark brutto verdiente er damals.

Wolfgang Dosek buchte, aber er blieb skeptisch. So viel Geld es für ihn auch war, für eine solche Flugreise klang das verdammt billig. Ob die überhaupt bis Herbst durchhalten können, fragte sich der Jung-Kaufmann. Im nächsten Jahr würden sie die Preise gewiss anheben. Damit er vergleichen konnte, bewahrte er den Prospekt auf.

Dass Neckermann diese billigen Angebote machen konnte, dafür sorgte damals auch Albrecht von Pflug. Seit 1961 arbeitete er als Einkäufer für die Schweizer Firma Hotelplan, ein Tochterunternehmen der Migros. Der in Spanien lebende Deutsche vermittelte Betten aus den Migros-Hotels an reisefreudige Schweizer, über Reisebüros, gleich kontingentweise. In Deutschland, wo man gerade erst Urlaub lernte, verirrten sich damals nur wenige in Reisebüros. Da hatte Josef Neckermann eine Idee: Warum sollte er nicht, mit Kontakten und Know-how von Hotelplan, als Reiseverkäufer hausieren gehen, per Beipack in seinem Katalog, der Millionen Haushalte erreichte?

18.000 Deutsche entschieden sich 1963 für eine Neckermann-Pauschalreise aus dem Katalog, zeitgemäß geködert: "Mit reichlich Hauptmahlzeiten und einer kleinen Bar, in der sie viel für wenig Geld erhalten." Acht Millionen Mark Umsatz erbrachte im ersten Jahr die neue Reisetochter, bis 1965 noch als Joint Venture von Neckermann und Hotelplan. Auch Dosek hatte 350 Mark beigesteuert für seine 15 Tage Mallorca. ",Was, du willst so weit weg', meinten die Bekannten, teils aus Unverstand, teils aus Neid", sagt der Reisepionier, "das war so exotisch wie heute Fidschi."

Es war sein erster Flug, spätabends. "Die machten gleich das Licht aus, 'wir wecken Sie auf Mallorca'." Damals dauerte der Flug noch vier Stunden. Zwei Dinge blieben ihm im Gedächtnis: Vor den Fenstern schwülstige rote Samtvorhänge, "wie im Frankfurter Bahnhofsviertel". Und die Bordverpflegung: "Eine Rolle Schokokekse." Etwa 50-mal ist Dosek seither nach Mallorca gefahren, die Pension in Cala Ratjada von seinem ersten Mal 1963 steht heute noch. "Damals waren Toilette und Dusche auf dem Gang, zu Mittag gab es Sternchennudelsuppe." Zu meckern gab es nichts.

Neckermann war nicht der erste Pauschalanbieter, Scharnow und Touropa waren längst im Geschäft, der Engländer Thomas Cook hatte 100 Jahre vorher Gesellschaftsreisen angeboten. Doch als Neckermann 1963 einstieg, war er mit Abstand der billigste. In Spanien, dem neuen Pauschalreiseland Nummer eins, profitierte das Reiseunternehmen, das ab 1965 als NUR (Neckermann und Reisen) selbstständig antrat, von erfahrenen "Scouts" wie Albrecht von Pflug. Er klapperte die Häuser von der Costa Blanca bis zu den Balearen ab, um sie für den Massenansturm aus Deutschland zu wappnen.

Von Pflug meint heute, dass es die Vorauskasse an die Hoteliers für ihre Neubauten war, mit der NUR günstige Preise aushandeln und so die Konkurrenz abhängen konnte. Neckermann war so billig, dass auf die Reisenden, die "Neckermänner", das Billig-Image abfärbte. "Die anderen konnten ihre Kunden beim Abendessen nicht neben unsere setzen", sagt Pflug. "Was, wenn sich herumsprach, dass Neckermann-Touristen für dasselbe Angebot ein Drittel weniger bezahlt hatten? Das war doch für die geschäftsschädigend."

1970 hob der millionste "Neckermann" ab, und ein Jahr später ging es mit den Jumbos von Condor richtig los. Längst gehörten Ziele in Ostafrika und Fernost dazu. Irgendwann wähnten sich Rucksacktouristen als die besseren Globetrotter, obwohl sich die Trampelpfade beider Spezies stark annäherten. Dass Pauschaltouristen weniger sozial- und umweltverträglich seien als Individualreisende, gilt längst als widerlegt, auch wenn heute drei Millionen pro Jahr allein mit NUR verreisen.

Irgendwann hat Wolfgang Dosek seinen Katalog von 1963 ausgegraben. Er wollte ja noch mal nachschauen, wegen der Preise. Natürlich wurden die Reisen teurer - in realen Preisen jedoch nicht. Kein Facharbeiter muss derzeit für 15 Tage Mallorca einen Monatsverdienst hinlegen. Dosek ist heute im Besitz des letzten Exemplars von jener Druckschrift, mit der die Deutschen anfingen, die Welt auf eine friedliche Art zu erobern.