Ein Jahr vor den Spielen im russischen Sotschi: Fast wöchentlich eröffnen neue Sportstadien und Hotels, der Flughafen ist schon in Betrieb.

Wenn in den Bergen hinter Sotschi die Dämmerung hereinbricht, steigt in der Skihütte auf dem Psechako fast immer eine Party. Heute schlägt Sergej aus Moskau mit einem Messer gegen sein Wasserglas, stellt sich breitbeinig auf, um den Trinkspruch auszustoßen: "In 400 Tagen werden unten am Meer die Olympischen Spiele eröffnet, darauf trinken wir." Die Gesellschaft johlt. "Auf Sotschi und Olympia!" Hoch die Tassen! Die Frauen haben ihre Skianzüge abgelegt, sind in Jeans und hochhackige Schuhe geschlüpft, die sie in der Garderobe deponiert haben. Die Männer nehmen es mit der Ästhetik nicht so ernst, sie haben ihre Skihemden aufgerissen und bauen die nächsten Gläser vor sich auf. Après-Ski à la Russie!

Rund 20 Milliarden Dollar lässt sich der Kreml die Olympischen Spiele kosten. Damit ist der zweiwöchige Winterevent die teuerste Massenveranstaltung aller Zeiten. Alles musste am Schwarzen Meer neu gebaut werden, denn als Sotschi 2007 mit der Ausrichtung der Spiele beauftragt wurde, gab es im Umkreis von 200 Kilometern nicht mal eine olympiataugliche Wintersportstätte. Sotschi war immer ein Badeort, in dem sich seit der Zarenzeit sonnenhungrige Strandliebhaber und Party-Schickeria tummelten. Es ist die einzige Stadt Russlands, in der es keinen Winter gibt! Die wilden Berge im Hinterland sind ein Naturparadies - aber touristisch kaum erschlossen.

Ein Jahr vor den Spielen ist alles anders: Fast wöchentlich werden neue Sportstadien, Straßen und Hotels eröffnet. Der moderne Flughafen ist schon in Betrieb. Die Schnellbahn in die Berge nach Krasnaja Poljana, wo im Februar 2014 alle Freiluft-Disziplinen stattfinden werden, soll die Fahrtzeit von der Küste auf 25 Minuten halbieren. Im Dezember wurden die Skisprungschanzen, der Eiskanal und die Halfpipe eingeweiht und jetzt im Februar das Langlaufstadion samt Schießanlagen für Biathleten fertig. Für Sotschi ist Olympia ein Glücksfall: Die Stadt bekam ein neues E-Werk, ein modernes Abwassersystem. In dem neuen Yachthafen dümpeln Boote der russischen Neureichen und Gangster, die an dem Olympia-Boom ebenfalls viel Geld gemacht haben. Dank der neuen Umgehungsstraße fließt der Auto-Verkehr wieder zügig. Alte Strände wurden saniert, das weltberühmte Dendrarium mit über 1000 verschiedenen Baumarten umgestaltet, neue Hotels und Restaurants errichtet.

Vor allem die Sportstätten verleihen der 350.000-Einwohner Stadt einen neuen Glanz. "Das werden wohl die besten Spiele der Geschichte", sagt ein deutscher Olympia-Kontrolleur. Die meisten Stadien liegen in dem großzügigen Olympiapark an der Küste, gleich neben dem Olympischen Dorf. Der Bolschoi Eispalast, die Eisberg Eiskunstlauf-Halle und das Mehrzweck-Stadion beeindrucken mit ihrer Architektur. Was wird aber später daraus? In Sotschi gibt es zwar Schwimmer und Tennisspieler, aber keine Skilangläufer oder Eishockeyspieler. "Mehrere Objekte wurden so konzipiert, dass sie wieder abgebaut und woanders errichtet werden können", sagt Dmitri Tschernyschenko, Chef des Olympia-Organisationskomitees.

Sotschi soll nach den Winterspielen mit St. Moritz und St. Tropez konkurrieren, so der Wunsch des Kremls. Der Kurort könnte um die russischen Touristen buhlen, die bisher ihren Urlaub in den Alpen oder an der Riviera verbracht haben. Tschernyschenko schlüpft schon gern in die Rolle des Tourismussprechers: "Im April kann man morgens Ski fahren und nachmittags im Meer baden", sagt er. Baden, klar, dafür ist Sotschi mit seinem subtropischen Klima seit der Zarenzeit berühmt. Vor der Oktoberrevolution 1917 wurde die Stadt gern mit dem französischen Nizza verglichen. In 75 Jahren Kommunismus ist allerdings vieles durcheinandergeraten, graue Plattenbauten und klassizistische Mietshäuser, noble Kurhäuser und billige Spielsalons. Stalin ließ in Sotschi Dutzende Sanatorien bauen, in den die treuesten Parteikader und fleißigsten Arbeiter ihren Urlaub verbringen durften.

Für Generationen der Sowjetbürger ist Sotschi ein Mythos. Hier fanden sie eine Zuflucht von dem sozialistischen Alltag, wenigstens für 24 Tage - so lang galt der Urlaubsschein. In Sotschi waren die puritanischen Gesetze der Sowjet-Gesellschaft außer Kraft gesetzt. "Es war alles erlaubt", sagt der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew. Mustergültige Hausfrauen tanzten auf den Tischen, unscheinbare Beamte verwandelten sich in Gigolos. "Sotschi, das war Sodom und Gomorrha zugleich." Heute ist Sotschi immer noch das russische Gegenstück zu Ibiza. Die Stars des russischen Pops wie Kristina Orbakaite oder Filip Kirkorow geben regelmäßig jedes Jahr Konzerte. Zum Kino-Tawr, dem wichtigsten Filmfestival des Landes im Juni, pilgert die gesamte russische Filmindustrie ans Schwarze Meer. In den Discos entlang der Strandpromenade, im Platforma und im Malibu, tanzen in den lauen Sommernächten die Schönen und die Reichen bis in den Morgengrauen. Doch wird es gelingen, aus dem Badekurort ein Skizentrum zu machen?

Eine Straße führt aus Sotschi entlang des Flusses Msymta hinauf in die Berge, sie schlängelt sich 40 Kilometer lang durch graue Siedlungen, vorbei an Holzhäuschen die von schiefen Zäunen umgeben sind. Schwarzer Rauch steigt aus den Schornsteinen, geheizt wird immer noch mit der Steinkohle. Rund um Krasnaja Poljana, das von 3000 Meter hohen Ausläufern des wilden Kaukasus eingekesselt ist, nimmt ein olympisches Winter-Disneyland Gestalt an: Hotels, Stadien und Einkaufszentren.

Die Straße endet in Rosa Khutor, wo sich der mediterrane Schick mit der sowjetischen Nostalgie kreuzt. Mittendrin erhebt sich ein großes Gebäude mit Turm, das an ein italienisches Rathaus erinnert. In den fünfstöckigen Betonklötzen nebenan haben bereits Radisson, Tulip und Park Inn ihre Türen geöffnet. Rosa Khutor, das sind modernste Gondelbahnen, ein Dutzend Sessellifte, 80 Kilometer Abfahrten - konzipiert hat das ganze Bernhard Russi, früherer Abfahrtsweltmeister aus der Schweiz. Vom Gipfel des Aibga, fast 2300 Meter hoch, blickt man bei klarer Sicht bis zum Schwarzen Meer. Die feuchte Meeresluft sorgt für Niederschlag, der von Dezember bis März meist als Schnee herunterkommt. Für Russlands Herrscher entsteht in Gorki Gorod eine Siedlung mit gut 1000 Appartements und Villen. Quadratmeterpreis: ab 4000 Dollar. Wie es mal aussehen wird, zeigen Prospekte: ein Mix aus Kitzbühel, Venedig und Las Vegas, mit Türmen, Blumenbalkonen, Cafés.

Einen Vorgeschmack bietet das benachbarte Grand Hotel Poljana. Der staatsnahe Gazprom-Konzern hat es errichtet, so wie auch die Langlaufloipen, das Biathlonstadion und die Skilifte auf dem Psechako. Für mindestens 300 Euro die Nacht bietet das Haus Juweliergeschäfte und Luxusboutiquen, Kristallleuchter und schwere barocke Einrichtung. Es gibt vier Saunas, jede unterschiedlich stark beheizt, und ein großes Swimmingpool, an dessen Rand bunte Cocktails geschlürft werden. Die Frauen, die mit ihren deutlich älteren Begleitern turteln, sehen nicht wie Skiläuferinnen aus. Zum Abendessen zeigen sie sich von ihrer besten Seite, mit Schmuck und viel Bein. Im Hotel spielt eine Band, und später geht es ins Sky, den besten Nachtclub im Ort. Stroboskopzucken, Laserlicht. Gogo-Tänzerinnen rekeln sich in einer Art Schiffsausguck oberhalb der Bar. Die russische Art der Après-Ski-Gemütlichkeit.