Die niederländische Stadt taucht wieder für ein Adventswochenende in die Welt von Charles Dickens ein - und zieht damit Tausende Besucher an.

Nein, er ist überhaupt nicht zufrieden. Die Welt ist schlecht, die Menschheit taugt nichts, die Wirtschaft steckt in der Krise. Zeternd und mit mürrischem Gesicht schreitet er in schwarzem Mantel und Zylinder über das Kopfsteinpflaster und beschimpft alles, was seinen Weg kreuzt. Das freundliche "Merry Christmas", das von allen Seiten durch die Straßen tönt - es sind ja nur noch wenige Tage bis Weihnachten -, überhört Ebenezer Scrooge dabei geflissentlich.

London, Mitte des 19. Jahrhunderts. Die feine Gesellschaft hat sich herausgeputzt. Flaniert durch die Gassen der Stadt. Trifft sich zum Plausch. Doch nicht jeder wandelt auf der Sonnenseite des Lebens. Am Ende der Straße mühen sich Frauen und Mädchen mit Waschbrett und Bürste ab, um ihre Wäsche zu reinigen. Aus schweren Bottichen dampft die heiße Waschlauge. Gegenüber spielt die Heilsarmee "Molly Malone", und rußverschmierte Waisenkinder liegen bettelnd und halb erfroren in der Gosse.

Scrooge hastet weiter. "Macht Platz für den Tod", hallt es durch die Häuserschlucht. Der schlecht gelaunte Mann muss einem Leichenzug ausweichen.

Neben einer Suppenküche bleibt er stehen. "Ein Teller Erbsensuppe - zwei Euro", steht auf dem Schild. Das klingt weder nach 1860 noch nach britischem Königreich. Alles ist nur gespielt. Seit mehr als 20 Jahren findet an einem Wochenende im Dezember das Charles-Dickens-Festival im niederländischen Deventer statt. Der britische Autor, der vor 200 Jahren in Portsmouth geboren wurde, ist der geistige Vater von Ebenezer Scrooge, Oliver Twist, David Copperfield, Nicholas Nickleby, Samuel Pickwick, Uriah Heep und Toby Veck.

Doch Charles Dickens lebte in England, er kam nie nach Deventer. Wieso wird es dann einmal im Jahr viktorianisch in der Kleinstadt an der Ijssel? Die Erfinderin des Festivals ist Emmy Strik. In der Walstraat im Bergkwartier betrieb sie jahrzehntelang einen kleinen Laden für Geschenkartikel, den heute ihre Tochter führt. Im Dezember 1991 wollten die Stadtväter einen verkaufsoffenen Sonntag abhalten. Emmy Strik war strikt dagegen: "Nach sechs Arbeitstagen wollte ich nicht auch noch sonntags hinter der Ladentheke stehen. Wenn es schon sein musste, dann sollte an dem Tag etwas Besonderes stattfinden." So kam ihr die Idee zu einem viktorianischen Fest. "Ich habe die Dickens-Bücher verschlungen und liebe England", erzählt die heute 71-Jährige, die auf der Veranstaltung eine Zofe Queen Victorias mimt: "Das Ambiente unserer Hansestadt mit Häusern aus verschiedenen Epochen, viele aus dem 16. und 17. Jahrhundert, und Kopfsteinpflasterstraßen bildet doch die perfekte Kulisse." 70 Akteure konnte Emmy Strik damals zum Mitmachen bewegen. Heute sind es um 1000 Deventer, die in viktorianische Kleider schlüpfen und Charaktere aus den berühmten Dickens-Werken "Eine Weihnachtsgeschichte", "Oliver Twist", "David Copperfield", "Nicholas Nickleby", "Der Raritätenladen" "Die Silvesterglocken" oder "Große Erwartungen" darstellen.

"Wir spielen die Rollen nicht", sagt Loek van Voorst. "Wir sind zwei Tage lang die Person, die wir darstellen." Seit 18 Jahren ist er der herzlose Ebenezer Scrooge aus der Erzählung "Eine Weihnachtsgeschichte". "Nach den Feiertagen darf ich wieder lustig sein", sagt van Voorst: "Denn über Weihnachten läutert sich Scrooge, wird warmherzig und wohltätig. Aber an diesen beiden Tagen kann ich mal so richtig was vom Stapel lassen. Das macht Spaß."

Mit seinen Veröffentlichungen wollte Dickens die Aufmerksamkeit der Leser auf die Not der Armen, Kinderarbeit, die sozialen Missstände in der englischen Gesellschaft lenken. Stark autobiografische Züge trägt die Geschichte über David Copperfield. Wie Dickens arbeitet sich die Romanfigur aus miserablen Verhältnissen zum angesehenen Schriftsteller empor.

Eine Dudelsackgruppe und Wachsoldaten ziehen auf. Alle zwei Stunden lässt sich Queen Victoria in einer schwarzen Sänfte durch die Straßen tragen, um ihren Untertanen zuzuwinken. Die Wachen vor "ihrem Palast" in der Walstraat sind so stumm und steif wie ihre Londoner Vorbilder. Hinter einer Mauer bildet Fagin, ein Landstreicher aus dem Roman "Oliver Twist", gerade eine Bande elternloser Kinder zu Taschendieben aus. Ein Schäfer zieht mit seiner Herde Richtung Bergkirche. Die feine Gesellschaft rümpft die Nase. In der Roggestraat wird es eng. "Votes for Women", steht auf den Schildern, mit denen die jungen Kammerzofen und Küchenhilfen für ein Frauenwahlrecht kämpfen. Die sieben Herren in Frack und Zylinder haben ganz andere Sorgen. Auf ungefederten, historischen Hochrädern holpern sie übers Kopfsteinpflaster.

Auch kurze Szenen werden aufgeführt. Mehrmals am Tag singt ein Kinder- und Jugendchor vor der Kirche, dem höchsten Punkt des mittelalterlichen Viertels, Lieder aus dem Musical "Oliver Twist". Alle Geschäfte des Bergkwartiers haben während des Festivals geöffnet. Die Ladenbesitzer sind verpflichtet, sich der viktorianischen Zeit entsprechend zu kleiden. Das Warenangebot könnte nicht passender sein: feinstes Geschirr, Schokoladenspezialitäten, Tee, Käse, Hüte, Bürsten, Bücher, antiquarische Möbel. "Mistelzweige. Kauft Mistelzweige. All you need is love", ruft eine junge Blumenverkäuferin: "Bund fünf Euro." Da ist sie wieder: die - Neuzeit!

Fürs leibliche Wohl der rund 150 000 Besucher ist während des Festivals gesorgt. "Hier gibt es die besten Muffins und gefüllten Waffeln", preist eine Küchenmamsell ihre Produkte an. Auf der anderen Straßenseite wartet saftiger Deventer Honigkuchen, den auch die holländische Königsfamilie regelmäßig genießt, auf Käufer. Der Duft von gebrannten Esskastanien zieht um die Bergkirche. Auch auf Punsch und Bockwurst muss niemand verzichten: "Wat zijn ze lekker, wat zijn ze fijn. Warme worsten, warme wijn", schallt es durch die Gassen. Übertönt werden die Marktschreier nur von den zahlreichen Chören und Musikkapellen, die alle paar Meter stimmungsvolle Weihnachtslieder zum Besten geben.

David Copperfield hat seine Verlobte Dora Spenlow untergehakt. Sie wollen den Nachmittag in der Stadt verbringen, ein paar einflussreiche Freunde treffen. Ein zeternder Mann mit wehendem weißen Haar und schwarzem Mantel kommt ihnen entgegen. "Merry Christmas, Mister Scrooge."